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Lauras Bildnis

Titel: Lauras Bildnis
Autoren: Henning Boetius
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sozusagen als Blindenstock nützt, um sich im dunklen Weltall zurechtzufinden. Dies ist die Position des Nominalismus. Sie tritt gegen den Realismus an und macht schließlich den Weg frei zur modernen Philosophie, bis hin zur Sprachtheorie eines Wittgenstein.
    Überall spiegelt sich dieser Umbruch. Die Dichtung zum Beispiel findet aus den Mönchszellen der Klöster heraus. Die höfischen Rituale, die auch den Stil beeinflußten, werden gelockert. Die gnostische Vorstellung, daß jeder Mensch durch seine Geburt an eine bestimmte Stelle des gnostischen Dreiecks der Gesellschaft gepflanzt wird, die er nie verlassen kann – der Papst an der Spitze des Dreiecks, der Unfreie ganz unten –, diese das ganze Mittelalter hindurch herrschende Sozialtheorie, gerät ins Wanken. Es gibt plötzlich auch eine Aufsteigermentalität. Dies erlaubt zum Beispiel dem Poeten, sich eine neue soziale Würde beizulegen. Er ist nicht einfach mehr nur Hofdichter, nur Untergebener und Lieferant schmückender oder lobpreisender Texte. Er kann es bis zu einer Art König der Sprache bringen: Die Dichterkrönung mit dem Lorbeerkranz kommt auf. Das wenn auch nur allmähliche Zerbrechen der alten, starren Strukturen, führt zu einem Zustand, der höchst labil ist. Politisch wie kulturell. Die Päpste unterliegen im Kampf gegen die weltliche Macht. Sie müssen nach Avignon ins Exil und unter den Schutz der französischen Krone. Für Petrarcas Entwicklung wird dies wichtig. Sein Vater, der Notar Ser Petracco da Parenzo, wird, ebenso wie sein Freund Dante, Opfer der in den oberitalienischen Städten tobenden Parteikämpfe zwischen den kaisertreuen Ghibellinen und den papsttreuen Guelfen.
    Diese blutigen Auseinandersetzungen spiegeln jenen grundsätzlichen Konflikt zwischen geistlicher und weltlicher Macht, die das Spätmittelalter charakterisiert. Die Ghibellinen unterliegen, und Dante wie Petrarcas Vater werden 1302 in die Verbannung geschickt.
    Petracco geht 75 km den Arno aufwärts nach Arezzo. Hier bekommt seine Frau am 20. Juli 1304 den Sohn Francesco. Am gleichen Tag findet vor den Mauern von Florenz eine neue Schlacht der verfeindeten Parteien statt, die »Weißen« verlieren erneut gegen die papistischen »Schwarzen«. Es besteht Lebensgefahr für die nach Arezzo verbannten Anhänger der »Weißen«. Dante beginnt sein unstetes Wanderleben. Ser Petracco flieht ebenfalls und läßt seine Familie in Arezzo zurück. Sieben Jahre wächst Francesco vaterlos auf. Dann holt der Vater Frau und Söhne nach Pisa. Gemeinsam gehen sie nach Avignon, wo sich seit 1305 der päpstliche Hof aufhielt und sich als Arbeitgeber für Juristen wie Ser Petracco anbot. Wieder schickt der Vater seine Familie weg. Diesmal in das 20 Kilometer entfernte Städtchen Carpentras, nördlich der Vaucluse und im Angesicht des Mont Ventoux gelegen.
    Francesco erhält einen intensiven Lateinunterricht bei einem mit dem Vater befreundeten Notar und Rhetoriklehrer, einem Landsmann und Sonderling, der eng mit der Kurie verknüpft ist. Der kleine Francesco befindet sich offenbar in einem vom Vater enggeknüpften Erziehungsnetz. Schon als Zwölfjähriger muß er nach Montpellier, um die Rechte zu studieren. Als Sechzehnjähriger wird er, zusammen mit seinem Bruder, nach Bologna geschickt, dem Mekka der Rechtsgelehrten, um seine Studien fortzusetzen. Es wird eine Art Befreiung für Francesco gewesen sein, denn in dieser modischen Stadt herrscht ein ganz anderer geistiger Wind. Francesco vernachlässigt seine Studien. Er wird zum Stutzer, zum Dandy, der seinem hübschen Aussehen nun die angemessenen Surrogate von eleganter Kleidung und galanten Sitten verleiht. Außerdem renaturiert er sich als Italiener, ein wichtiges Zwischenspiel für einen Exilanten.
    Der Tod des Vaters 1326 befreit ihn vom Zwang, Jurist zu werden. Er kehrt nach Avignon zurück und empfängt, wie es dem Zeitgeist entspricht, die niederen Weihen. Doch ist dies nur die Eintrittskarte in den Zirkel der Kurie, deren beste Köpfe glänzend gebildete, altrömische Familien sind. Francesco hat schon in Bologna mit einem ihrer Mitglieder Freundschaft geschlossen. Er verkehrt jetzt im Hause der Colonna. Systematisch vergrößert er sein philologisches Wissen. Er beginnt, sich eine hervorragende Bibliothek zuzulegen. Er sammelt Handschriften, wird zum Livius-Experten. Seine Gönner finanzieren ihn. Sein Weg ist vorgezeichnet: Er wird zum Philologen-Dichter. Wissen und Inspiration bilden eine Einheit. Dies ist das neue
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