Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lauras Bildnis

Titel: Lauras Bildnis
Autoren: Henning Boetius
Vom Netzwerk:
Liebesgeschichte war unglücklich ausgegangen. Orpheus hatte sich aus Liebe zu Eurydike umgedreht. Er wollte seine Geliebte sehen und verstieß damit gegen die Bedingung, unter der Pluto Eurydike freigegeben hatte. So ist es: Hören, fühlen, ertasten darf man seine Liebe, aber niemals ansehen. Das Bild ist das Verbotene. Die Augen sind Werkzeuge des Scheiterns.
    »Einerseits tut es mir leid für Sie«, begann Labisch. »Andererseits auch nicht. Sie stehen jetzt an einer besonderen Ecke. Sie wechseln die Richtung, und alles wird anders. Solche Ecken sind äußerst selten auf dieser Welt. Ich beneide Sie. Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft.« Labisch reichte ihm seine weiche Hand. »Wenn ich dann noch lebe«, sagte Francesco. Labischs Miene war so herzlich wie noch nie gewesen. Nun streifte er seine Tarnkappe über und verschwand.
    In Francesco kam eine Betriebsamkeit, die genauso unauffällig wie effektiv war. Einige Sachen räumte er in seine Tasche, die Muschelpalette und den Inhalt der blauen Schublade ‘Meer’. Dann füllte er Alkohol in eine Porzellanschale und gelierte ihn mit Celluloseäther zu einer kleisterartigen Substanz. Ein sanftes Mittel. Es würde den Firnis nur oberflächlich angreifen, aber durch die Konsistenz der viskösen Masse würde das Bild schrecklich verunstaltet aussehen.
    Kurz vor dem Ende der Öffnungszeit ging er mit seiner Tasche hinüber in den Neubau. Niemand bemerkte ihn. Es waren auch keine Besucher mehr da. Er versteckte sich hinter einigen Stellwänden. Als das Licht ausging, legte er sich auf den Boden und schlief lange und tief. Gegen halb zehn wachte er auf. Er ging zur Gentildonna und kippte ihr die Substanz geradewegs ins Gesicht. Die Tropfen rannen langsam zum Dekolleté herab. Auf dem Inkarnat entstanden blasig verquollene Streifen.
    Es gelang ihm, unbemerkt aus dem Gebäude zu kommen. In seiner Wohnung setzte er sich in den Sessel am Fenster und wartete. Gegen elf klingelte das Telefon. »Warum hast du dich nicht gemeldet?« sagte Laura. »Ist etwas los? Ist es dir zuviel geworden mit mir?«»Nein«, sagte er. »Ich komme später vorbei.«»Wir machen was Schönes«, sagte sie und legte auf.
    Wieder klingelte es. Es war Labisch. »Kommen Sie sofort rüber in den Neubau. Ein Säureattentat auf ihre geliebte Gentildonna. Retten Sie, was zu retten ist.«
    Man hatte das Bild bereits in seine Werkstatt gebracht und auf den Rücken gelegt, um weiteres Fließen der Säure zu verhindern.
    Er schickte alle hinaus. »Ich muß mich jetzt konzentrieren«, sagte er.
    Als er allein war, nahm er einen Lappen und wischte die Masse ab. Der Firnis war stumpf geworden. Die Gentildonna sah ein wenig trübe und ermattet aus, sonst aber war ihr nichts geschehen.
    Er rief in der Zentrale an und sagte, er wolle bis auf weiteres nicht gestört werden, es sei eine heikle Arbeit.
    Dennoch erhielt er einen Anruf. Es war der Direktor. »Kommen Sie morgen zu mir«, sagte er. »Wir wollen noch einmal über die ganze Angelegenheit reden. Vielleicht sieht jetzt alles wieder anders aus. Aber tun Sie erst einmal ihre ärztliche Pflicht.«
    Er holte einen passenden Klimakoffer und legte die Gentildonna hinein. Den Rahmen mußte er leider zurücklassen. In der Mittagspause gelang es ihm, durch einen Seitenausgang des labyrinthischen Baus unbemerkt ins Freie zu kommen. Er ging am Fluß entlang zum Bahnhof, die Reisetasche in der einen, den Koffer in der anderen Hand. Es war alles ganz einfach, viel einfacher als die Liebe.
    Er nahm den nächstbesten Zug nach Basel. Später, im Liegewagen, geriet er in Panik. Nach dem Gesetz war er ein Straftäter. Außerdem fuhr er von Laura weg. Und was würde aus ihm werden in Fontaine? Bazin war ein Spinner, eine Plaudertasche. Er würde den Diebstahl nie für sich behalten.
    In Avignon ging er in die Kneipe am Bahnhof. Er hätte schwören können, daß die Zeit hier stillstand, denn es waren genau die gleichen Maskengesichter wie damals. Er setzte sich mit seinem Gepäck in eine Ecke und bestellte einen Espresso. Dann begann er nachzudenken.
    Zum erstenmal seit vielleicht sechzehn Monaten dachte er wirklich nach. Was war eigentlich mit ihm geschehen? Er hatte sich verliebt. Das passiert ständig und vielen. Es ist nichts Besonderes. Er hatte sich von einer Frau getrennt. Auch das war ein ganz normaler und sehr verbreiteter Vorgang. Er hatte ein hervorragendes Bild gefunden und restauriert. Dies war schon eher ungewöhnlich, jedoch keineswegs so sensationell,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher