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Lauf, wenn es dunkel wird

Lauf, wenn es dunkel wird

Titel: Lauf, wenn es dunkel wird
Autoren: April Henry
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wieder an, schlimm zu husten. Kleine Explosionen, die ihren Körper auf dem Sitz herumwarfen.
    »Kannst du mir meine Hustenbonbons aus der Tasche geben«, würgte sie schließlich hervor.
    Griffin fuhr in eine geschotterte Ausweichbucht, ließ aber den Motor laufen. Er durchwühlte ihre Tasche und fand die Schachtel mit den Hustenbonbons. »Hier, bitte sehr«, sagte er. Sie öffnete den Mund.
    Obwohl er, seit seine Mutter sie verlassen hatte - damals war er zehn gewesen -, keinen Gottesdienst mehr besucht hatte, fühlte Griffin sich plötzlich wie ein Priester mit einer Hostie. Als er Cheyenne den Hustenbonbon gab, streiften seine Fingerspitzen ihre Lippen.
    »Hör mal«, sagte er. »Ich muss dein Gesicht kurz abdecken. Und wenn wir anhalten, musst du ganz still sein, okay?«
    Einen Augenblick lang hörte man nur, wie sie an der Pastille lutschte. Schließlich nickte sie.
    Griffin zog die Decke locker über ihr Gesicht, legte den Gang ein und fuhr weiter. Unbewusst rieb er seine Fingerspitzen aneinander, die, mit denen er ihre Lippen berührt hatte.

Hier sind Drachen
    Der Entführer konnte sie nicht sehen. Niemand konnte sie sehen. Es war, als wäre sie unsichtbar. Cheyenne lag versteckt unter der Decke auf dem Rücksitz des Autos und erlaubte sich, lautlos ein bisschen zu weinen. In den vergangenen drei Jahren war sie darin sehr gut geworden.
    Nach dem Unfall hatte ihr Dad einen Zusammenbruch gehabt. Jede Nacht schlief er bei ihr im Krankenhaus. Ihre Mom hätte dasselbe gemacht, aber ihre Mom gab es nicht mehr. Ihr Dad war beruflich sehr viel unterwegs, ihre Mutter war diejenige gewesen, die sie am besten kannte, die alles von ihr wusste. Wer sonst dachte daran, dass sie zum Frühstück am liebsten Schokoladencornflakes aß und Angst vor Motten hatte. Wer würde jetzt BHs mit ihr einkaufen gehen und über die Leute an ihrer Schule reden.
    Im Krankenhaus wurde sie manchmal wach, weil ihr Vater im Schlaf weinte. Sie musste stark sein - für ihn. Das war ihr klar geworden. Also hatte sie ihre wirklichen Gefühle versteckt, ihr wahres Ich, damit er nicht merkte, wie schlecht es ihr ging.
    Als sie nun so unter der Decke lag, schmerzte ihre Brust. Inwieweit das von den unterdrückten Schluchzern kam und inwieweit von der Lungenentzündung, konnte sie nicht sagen.
    Danielle hatte sofort auf eine Lungenentzündung getippt, als sie durch das Stethoskop das Knistern in Cheyennes Lunge gehört hatte. Sie hatte auch eine Stelle gefunden, an der es gar keine Atemgeräusche gab. Atemgeräusche, die eigentlich hätten da sein müssen.
    Cheyenne hatte nie mehr als ein verschwommenes Bild von Danielle gesehen, und trotzdem hatte sie in ihrer Vorstellung ein klares Bild von ihr. Blondes schulterlanges glattes Haar und einen schlanken Körper, ein bisschen wie die vielen Schauspielerinnen im Fernsehen, auch wenn Danielle klüger war als zwei oder drei von ihnen zusammen.
    Der Besuch beim Arzt war nur eine Formsache gewesen, ein Weg, das Rezept zu bekommen, das eine Krankenschwester nicht ausstellen durfte. Der Arzt hatte das Röntgenbild angetippt, was nach hohlem Plastik geklungen hatte, und ihnen gesagt, dass man darauf einen Schatten auf dem unteren Lappen des rechten Lungenflügels sehen konnte. »Mit Antibiotika kriegen wir das Teil in ein paar Tagen klein. Es wird eine Weile dauern, bis deine Abwehrkräfte wieder voll aufgebaut sind, aber wenn nach den Weihnachtsferien die Schule wieder anfängt, bist du schon längst auf dem Weg der Besserung.«
    Cheyenne holte lang und zitternd Luft. Ihr Kopf fühlte sich wattig an. Alles war so unwirklich. Das konnte ihr doch unmöglich gerade passieren. Es war wie auf einer dieser alten Landkarten, als die Menschen noch glaubten, die Erde sei eine Scheibe. Dort, wo das Festland zu Ende war, weit draußen im Ozean, stand in dunkler Tinte: »Hier sind Drachen.«
    Sie atmete tief ein. Denk nach, befahl sie sich. Konzentrier dich.
    Sie musste jeden Vorteil nutzen, den sie hatte. Nur, dass ihr keiner einfiel. Wenn bloß Phantom bei ihr wäre! Sie vermisste ihn mehr als alles andere. Hätte sie ihn doch bloß nicht zu Hause gelassen! Aber Danielle hatte gemeint, dass es so einfacher wäre, schließlich musste sie nur vom Auto zur Arztpraxis laufen, und dafür brauchte sie keinen Blindenhund. Doch wenn sie Phantom bei sich gehabt hätte, wäre dieser unheimliche Kerl bestimmt nicht ins Auto gestiegen.
    Jetzt war sie also hier - blind, entführt, gefesselt, auf dem Weg nach wer weiß wohin,
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