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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit
Autoren: Olen Steinhauer
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fragte, ob jemand schon den Rettungswagen sah. Zwei kräftige Männer lösten sich aus der Gruppe von mittlerweile einem Dutzend Leuten und liefen zur Ecke. Sie hielt ihn an sich gedrückt und hörte, wie er etwas in ihren Ausschnitt flüsterte. Behutsam
kippte sie seinen Kopf nach hinten. »Was ist, Schatz?«
    »Das hab ich verdient.« Er bebte.
    »Nein, so was hat niemand verdient.«
    »Du nicht«, antwortete er. »Die kleine Miss auch nicht.« Wieder hustete er Blut.
    Als sie den Blick senkte, bemerkte sie das viele Rot. Es sah aus, als wäre auch sie angeschossen worden. Sie wusste, dass das nicht gut war. Sie nahm sein Gesicht in die Hände und drehte es, bis er ihr in die Augen schaute. »Liebling? Liebling, bleib wach. Okay?«
    Doch als er nickte, schloss er die Augen, und der Schreck fuhr ihr in die Glieder. Sie versetzte ihm eine heftige Ohrfeige, und seine Augen öffneten sich wieder. »Domina.« Er lächelte. »Schieb mich zurück.«
    »Was?«
    »Damit ich sie sehe.«
    Langsam drückte sie gegen seine Schultern, doch als sich sein Gesicht vor Schmerz verzerrte, bat sie einen der tatenlos herumstehenden Männer um Hilfe. Schließlich lag er mit dem Rücken auf den Stufen, den Kopf weit nach hinten, und starrte hinauf zum Himmel. Stephanie schaute weinend aus dem Fenster. Er lächelte sie an und wollte ihr etwas zurufen, bekam aber nicht genug Luft. Also flüsterte er Tina zu, was sie sagen sollte, und sie rief hinauf.
    »Kleine Miss! Dein Dad wird wieder gesund! Du sollst dir keine Sorgen machen und auch nicht mehr mit den Fingern knacken!«
    Stephanies Tränenfluss stockte, und sie betrachtete verblüfft ihre ineinandergeklammerten Hände, die laute Knackgeräusche von sich gaben. Sie ließ los.
    Als der Krankenwagen eintraf, standen vor ihrem Haus
auf beiden Straßenseiten über zwanzig Leute, und der Fahrer musste sie anbrüllen, damit sie Platz machten. Zwei lateinamerikanische Sanitäter mit einer Bahre stiegen hinten aus. Während einer Milos Bauch untersuchte, fragte ihn der andere mit ruhiger Stimme nach dem Hergang der Ereignisse, die zu seiner Verletzung geführt hatten. Ab und zu warf auch Tina etwas ein. »Ich bin raufgelaufen, um unsere Tochter zu schützen.« Doch der Sanitäter winkte nur ab. Bald wurde Milo auf die Trage geschnallt, und Tina versprach ihm, gleich nachzukommen.
    Hastig zog sie sich um und suchte auch für Stephanie ein neues Shirt heraus, weil sie sich das andere am Fensterbrett zerrissen hatte. Die Gruppe Schaulustiger hatte sich aufgelöst, nur noch einige Neugierige starrten auf die blutverschmierte Treppe, und Tina zog Stephanie gleich weiter. Obwohl das New York Methodist Hospital gleich um die Ecke lag, nahm sie das Auto und plauderte mit möglichst beruhigender Stimme, während Stephanie schweigend neben ihr saß und aus dem Fenster starrte.
    Nach einer Stunde im Wartezimmer trat eine müde Ärztin ein, die ihr versicherte, dass Milo überleben würde, aber eine lange Genesungszeit vor sich hatte. Die Kugel war in den Dünndarm eingedrungen. Nachdem sie gegangen war, versank Stephanie in verstörtes Schweigen, und Tina erinnerte sich an etwas aus der letzten Sitzung mit Dr. Ray. Milo war wieder einmal weggedriftet, was ihr Sorgen machte, doch dann fing er an, völlig unmotiviert zu erzählen. »Bei der Arbeit früher hatte ich manchmal diese Aussetzer. Ich war in der Stadt, und auf einmal hat mich irgendein Detail ins Schleudern gebracht. Ein Hund, ein Auto, ein Takt Musik – immer was anderes.«
    »Wie meinen Sie das, ins Schleudern gebracht?«
    »Abgelenkt. Plötzlich hatte ich das körperliche Bedürfnis,
zu Hause anzurufen. Mit Tina und Stephanie zu sprechen. Ich hab es sogar zweimal probiert, aber zum Glück ist niemand hingegangen.«
    »Das hast du nie erwähnt«, sagte Tina.
    »Weil es leichtsinnig war«, antwortete er. »Deswegen hat es mir auch zu schaffen gemacht. Ich wollte nicht anrufen, aber ich musste.« Er sah Dr. Ray an. »Haben Sie eine Ahnung, was das war?«
    Die Therapeutin runzelte die Stirn und zuckte die Achseln wie über eine besonders alberne Frage. »Na, für mich klingt es nach Liebe. Finden Sie nicht?«
    Die Erinnerung verblasste, als ein Mann in grauem Anzug mit zerzaustem Haar und roten Händen eintrat. Sein Blick wanderte über die Menge der Wartenden, bis er an ihnen hängen blieb. Mit einem Lächeln für Stephanie kam er herüber und nickte Tina zu. »Wie geht es Milo?«
    »Wer sind Sie?«
    »Oh, Entschuldigung. Alan Drummond. Milo hat
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