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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit
Autoren: Olen Steinhauer
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das amerikanische Touristenvisum, das ihm erlaubte, das Land zwei Monate lang nach Herzenslust zu erforschen. Aber sein Herz hatte ohnehin nur auf eins Lust, und mit den zweihundertfünfzig
Dollar in seiner Tasche wäre er wohl kaum zwei Monate ausgekommen. Für sein Vorhaben hingegen würde das Geld reichen. Und danach? Dann würde er entweder sein Rückflugticket benutzen oder nicht. Das lag nicht bei ihm, sondern bei Gott.
    Inzwischen ging es ihm wieder besser als vor ein paar Wochen, als er Erika Schwartz in dem Lebensmittelgeschäft in Pullach zur Rede gestellt hatte. Davor hatte er in seinem Wagen eine anonyme Nachricht gefunden – von Rick? –, aus der er erfuhr, dass diese Frau vom Geheimdienst die Gewohnheit hatte, am Abend einen bestimmten Laden aufzusuchen. Drei Tage lang hatte er nicht geschlafen und in der ganzen Zeit nicht gearbeitet; sein Taxi war ungenutzt herumgestanden, bis er damit nach München fuhr, um Auskunft zu verlangen. Sie hatte zwar wie versprochen am nächsten Tag angerufen und ihm erklärt, dass es leider keine neuen Hinweise auf den Mörder seiner Tochter gab, aber ihm entging nicht, dass sie ihm eine Abfuhr erteilt hatte. Er verstand nicht, warum, denn bei dem Gespräch vor der Kirche hatte er den Eindruck gewonnen, dass sich diese Frau für ein wenig Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt einsetzte. Offenbar hatte er sich geirrt.
    Er hatte sich vorbereitet und kannte den Weg zur AirTrain-Haltestelle. Wie erwartet betrug der Preis fünf Dollar. An der Station Howard Beach erstand er für zwei Dollar ein Plastikticket für die U-Bahn bei einem gereizten Schwarzen hinter einem Fenster, der ihn immer wieder aufforderte, die Automaten hinten zu benutzen. Aber Andrei blieb stur. Er schob den Fünfdollarschein durch den Schlitz und wiederholte. »Ticket. Hoyt Street Fulton Mall.«
    »Okay, Mann. Hier ist die MetroCard. Und Hoyt
kannst du dir selbst raussuchen.« Er deutete auf eine Karte an der Wand.
    Andrei verstand Englisch viel besser, als er es sprach, vor allem dank der untertitelten Filme im moldawischen Fernsehen. Auch von Landkarten hatte er eine Ahnung, denn bei seinem zweijährigen Militärdienst hatte er sich in allen Formen der Navigation hervorgetan. Daher fiel es ihm nicht schwer, die Hoyt Street zu finden. Dort konnte er umsteigen und nach einer Station erneut die Bahn wechseln, um schließlich zur Haltestelle Fifteenth Street-Prospect Park in Brooklyn zu gelangen.
    »Das ist ganz leicht«, hatte ihm Rick in langsamem, breiigem Russisch erklärt – eine Sprache, die Andrei nur zu geläufig war. »Das Hinfahren ist der leichte Teil. Auch das Vorbereiten ist leicht. Was danach kommt, liegt an Ihnen. Dann sind Sie am Zug. Sie kennen ja das Sprichwort, Andrei. Wer ein reines Herz hat, hat nichts zu fürchten.«
    Es war eine große Überraschung für ihn gewesen, als ihn der Fahrdienstleiter von Alligator per Funk aufforderte, einen Fahrgast in Tegel abzuholen, der ausdrücklich nach ihm verlangt hatte. »Nach mir?«
    »Ja, Andrei.«
    Der grinsende, fette Chinese wartete ohne Gepäck und wollte unbedingt vorn einsteigen. Hinten wurde ihm übel, wie er erklärte. Also räumte Andrei herumfliegende Quittungen, seine Jacke und die Papiertüte mit seinem Mittagessen weg, und der Mann ließ sich mit lauten Ächzgeräuschen auf dem Beifahrersitz nieder. »Zum Tiergarten, bitte.«
    Während Andrei fuhr, legte der Mann die Hände in den Schoß und fragte, ob Andrei Russisch konnte. Das hätte ihn eigentlich hellhörig machen müssen, aber er zuckte nur die Achseln. »Da.«

    »Charascho«, sagte der Chinese. »Herr Stanescu, Sie kennen mich nicht, aber ich habe Sie vorhin als Fahrer angefordert.«
    »Das habe ich gehört«, erwiderte Andrei.
    »Ihre Geschichte ist in aller Munde, auch in meiner Heimat.«
    »Wenn Sie ein Journalist sind, dann muss ich Sie bitten auszusteigen.«
    »Bitte, ich bin nicht von der Presse.« Er griff in seine Jackentasche und nahm einen quadratischen, violetten Umschlag heraus. »Ich bin ein Freund. Zumindest hoffe ich, dass Sie mich als solchen betrachten werden. Ich möchte Ihnen helfen.«
    Der Chinese war nicht der Erste, der ihn erkannte. Manchmal warf ein Fahrgast mitten auf der Strecke einen Blick in den Rückspiegel und keuchte laut, weil es gerade bei ihm Klick gemacht hatte. Die meisten schwiegen lieber, nur manche – überwiegend Frauen – konnten nicht den Mund halten und setzten zu langen, sinnlosen Monologen darüber an, wie er sich fühlen
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