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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit
Autoren: Olen Steinhauer
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musste und was sie nach der Nachricht vom Tod seiner Tochter empfunden hatten. Er wusste nie, was sie von ihm erwarteten. Anerkennung? Bestimmt hatten sie keine Ahnung, dass sie mit ihrem Geschwafel bei ihm nur Hass auslösten.
    Daher entgegnete er: »Hilfe ist nicht möglich. Bitte bemühen Sie sich nicht.«
    »Ich bin wohl nicht der Einzige, der Sie darauf angesprochen hat.« Anscheinend konnte der Chinese Gedanken lesen. »Vergessen Sie die anderen. Alles Narren. Es gibt nur eine Möglichkeit, einem Mann in Ihrer Situation zu helfen. Hier.« Er nickte zum Straßenrand. »Halten Sie mal.«
    Sie hatten gerade die Autobahn verlassen und Charlottenburg
erreicht, unweit vom Sophie-Charlotte-Platz. »Warum?«, wollte Andrei wissen.
    »Ich möchte nicht, dass Sie einen Unfall verursachen, wenn Sie das sehen.«
    Er stoppte und überlegte, wie lang er den Armleuchter noch ertragen sollte, bevor er ihn aus dem Taxi warf. Er musste sich nicht irgendwelche Sachen anschauen, um einen Unfall zu riskieren. Dazu reichte schon die Erinnerung an Adriana. Der Mann öffnete den Umschlag und nahm ein Foto heraus. Es war vertraut, zu vertraut, nur klarer als das Bild, das ihm Erika Schwartz gezeigt hatte. Der Mann – dieser Mann – im Gespräch mit Adriana vor einer Hofeinfahrt. Sie war wunderschön. Er berührte das Foto, berührte sie.
    Dann zog der Chinese es weg. »Er hat sie getötet.«
    »Nein.« Andrei wunderte sich nicht einmal, dass ein Chinese dieses Bild besaß. »Es war jemand anders.«
    »Wer hat Ihnen das gesagt?«
    »Der deutsche Geheimdienst.«
    Lächelnd schüttelte der Chinese den Kopf. »Agenten halten zusammen. Dieser Mann, der ihre Tochter umgebracht hat, ist ein amerikanischer Agent.«
    »Nein, er ist ein Tourist.«
    »So nennen sie sich. Aber er ist ein Agent.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Ich weiß alles über diesen Mann. Wenn Sie wollen, kann ich es Ihnen erzählen.«
    Wieder fixierte Andrei das Foto in der Hand dieses Fremden und hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Verwirrung breitete sich in ihm aus. Er schluckte schwer und fragte sich, warum die wenigen Geheimagenten, die er kannte, alle so beleibt waren. »Wer sind Sie?«

    »Nennen Sie mich einfach Rick. Glauben Sie mir, was dieser Mann getan hat, erfüllt mich mit Abscheu.«
    »Wo ist er jetzt?«
    »Wieder in Amerika.«
    »Dann hat es keinen Zweck. Dorthin komme ich nicht.«
    »Da kann ich Ihnen helfen.«
    Im Auto war es zu stickig, und Andrei stieg aus, um sich eine Zigarette anzuzünden, aber der vorbeirauschende Verkehr blies ihm immer wieder das Streichholz aus. Er trat auf den Gehsteig, und nachdem das Ding endlich brannte, nahm er einen tiefen Zug. Der Chinese machte sich nicht die Mühe, herauszuklettern. Er ließ nur das Fenster herunter und starrte ihn mit seinen asiatischen Augen an. Paffend entfernte sich Andrei, dann stapfte er wieder zurück. Begleitet vom Verkehrslärm, begann der Mann namens Rick zu sprechen, und er musste sich nah zum Fenster beugen, um etwas zu verstehen.
    Auch er war Vater. War es gewesen, bis dieselben Agenten seinen einzigen Sohn töteten. »Ich habe mich gefühlt wie Sie, aber ich wusste, wenn ich je wieder was von meinem Leben haben will, muss ich etwas unternehmen. Sie können hierbleiben, Andrei. Sie können vergessen, dass wir je miteinander gesprochen haben. Aber es wird Sie nie mehr loslassen, glauben Sie mir. In der Nacht, wenn alles ganz still ist, wird es Ihnen wieder einfallen, und Sie werden krank sein vor ohnmächtiger Wut.« Ricks Augen waren feucht, als hätte auch er solche Nächte erlebt, doch vielleicht lag es auch nur am Wind. »Frieden können Sie nur finden, wenn Sie wissen, dass Sie alles getan haben, was in Ihrer Macht steht.«
    »Sind Sie religiös?«, fragte Andrei.
    »Ich glaube an die Ordnung der Dinge.«

    Andrei nickte. Dann warf er den glimmenden Stummel weg und setzte sich wieder ans Steuer. Rick ließ die Scheibe nach oben fahren. Andrei sagte: »Sie sprechen von Rache.«
    Rick dachte kurz nach, dann zitierte er aus dem Gedächtnis: »Kommt aber ein Schaden daraus, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule.«
    Das war vor sechs Tagen gewesen. Und als er jetzt in Brooklyn umstieg und genau auf die Schilder über seinem Kopf achtete, um sich nicht zu verlaufen, wiederholte er diesen Vers. Dichtes Gedränge herrschte hier, und er war nur ein kleiner Punkt in der Masse vieler
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