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Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein

Titel: Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
Autoren: Michael Winterhoff
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Zeitung gibt es zwar noch, sie liegt aber unbeachtet auf der Küchentheke. Im TV läuft eine Morgensendung, Frühstücksfernsehen, er erinnert sich, dass diese Art von Sendungen sich in seiner Zeit gerade zu etablieren begann. Im Jahr 2010 erhält er dort den gleichen Mix aus Unterhaltung und weltweiten Katastrophen, den ihm die Radionachrichten vorher auch schon boten, nur dass nun noch Bilder dazukommen, die sich tief in sein noch halbwaches Bewusstsein eingraben.
    Er fragt seinen Sohn, was er mit dem Gerät in seiner Hand macht, und erhält nach einigem Zögern zur Antwort: »Ich schicke eMails und schreibe SMS, außerdem checke ich meinen Facebook-Account.« All diese Informationen lassen den Mann der 90er ratlos zurück. Mails, SMS, Facebook, in seinem inneren Wörterbuch gibt es diese Begriffe nicht. Er bittet seinen Sohn, ihn einen Blick auf das Handy werfen zu lassen und ihm zu zeigen, was er dort tut. Als er sieht, wie der 17-Jährige dort sogenannte »Webseiten« mit dem Finger hin- und herschiebt, beginnt er bereits, an seinem Verstand zu zweifeln,
und ruft sich die gängigen Science-Fiction-Filme in Erinnerung, die er aus den 90er-Jahren kennt. Gab es so was dort? Hatte einer der Regisseure oder Autoren genug Phantasie gehabt, sich das vorzustellen? Er kommt zu keinem Ergebnis.
    In seinem Kopf beginnen die Gedanken langsam, aber sicher zu rotieren. Der Tag hat doch noch kaum begonnen, trotzdem fühlt er sich bereits wie unter Dauerbeschuss. Er beginnt, die Zeitung zu lesen, als seine Tochter reinkommt, ebenfalls ihr Handy wie festgewachsen in der Hand und gleichfalls damit beschäftigt, Nachrichten zu lesen und zu verschicken.
    Plötzlich sagt sie: »Mama schickt eine SMS, ob wir die Croissants pur oder mit Schinken, mit Käse oder mit Schokolade gefüllt haben möchten.« Sie schaut fragend in die Runde. Während ihr Bruder, ohne von seinem Handy aufzuschauen, murmelt: »Ich will lieber Baguettebrötchen«, weiß unser Mann gar nicht, was er antworten soll. Er erinnert sich, dass sie sich 1990 manchmal fragten, ob sie sich Croissants zum Frühstück gönnen sollten oder nicht. Von vier verschiedenen Varianten war da nie die Rede.
    Langsam dämmert ihm, dass der Tag noch sehr spannend werden könnte. Alles kommt ihm merkwürdig beschleunigt vor, alle scheinen alles gleichzeitig zu machen und sich vom ersten Atemzug am Tage an mit Informationen vollzustopfen.
    Nach dem Frühstück verabschiedet er sich und macht sich auf den Weg in die Firma. Unterwegs beobachtet er die Menschen. Das Bild, das sich ihm bietet, scheint ihm weiterhin wie aus einer fernen Zukunft zu kommen. Kaum jemand, der nicht andauernd auf einen kleinen Bildschirm schaut, irgendwelche Botschaften tippt oder in aller Öffentlichkeit lauthals telefoniert, manchmal sogar, ohne dabei überhaupt ein erkennbares
Gerät in der Hand zu halten. Dabei wirken die Menschen nicht entspannter als in der 20 Jahre zurückliegenden Vergangenheit, viele machen einen angestrengten Eindruck, der Stress liegt für unseren Mann spürbar in der Luft, und er merkt langsam, wie er sich von dieser seltsamen Stimmung anstecken lässt.
    Im Büro angekommen, wird er als Erstes Zeuge eines Streitgesprächs zwischen einem Vorgesetzten und seinem Mitarbeiter. Dieser rechtfertigt sich gerade dafür, dass er am Wochenende nicht in seinen dienstlichen Mailaccount geschaut hat und auf die dort lagernden Arbeitsaufträge am Montagmorgen noch nicht vorbereitet war. Der Vorgesetzte regt sich sehr darüber auf, und unser Mann beginnt zu überlegen, ob ihn sein Chef schon mal am Sonntag angerufen hat, um ihm mitzuteilen, was am Montag anliegt. Er kann sich nicht erinnern, dass das jemals der Fall gewesen ist. In dem Großraumbüro herrscht hektische Betriebsamkeit, das war früher auch schon so, aber auch hier scheint es ihm, als wenn sich die Geschwindigkeit noch erhöht hätte.
    Der Tag geht in diesem Tempo vorüber, er hat wenig Gelegenheit, mit Kollegen zu reden (vielleicht ganz gut so, sonst würden sie sich noch über seine plötzliche Rückständigkeit wundern). Auch die Kollegen untereinander reden erheblich weniger miteinander, sie schreiben sich Mails, selbst wenn sie nur eine Bürotür voneinander entfernt sind. Es ist, als ob sie kaum mehr persönlich miteinander kommunizieren würden, sondern fast nur noch virtuell. Als er am Abend den Heimweg antritt, wundert er sich schon ein gutes Stück weniger über die enge Verbindung, die viele Menschen mit ihren
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