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Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein

Titel: Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
Autoren: Michael Winterhoff
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einmal damit befassen, einigermaßen sicherzustellen, dass Unterricht überhaupt möglich ist, sprich: zu erreichen, dass der Großteil der Klasse sich auf den Unterricht und den Lehrer konzentriert, ihm zuhört und Regeln akzeptiert, ohne die eine Klassengemeinschaft
nicht funktionieren kann. Dazu sind heute immer weniger Kinder in der Lage, weil ihnen die notwendigen Entwicklungsschritte der Psyche im sozialen und emotionalen Bereich fehlen. Der Lehrer wird dadurch nicht als Lehrer erkannt, das Gleiche gilt für Strukturen und Abläufe, die für den Lernerfolg notwendig sind.
    Wer sich darüber wundert, beklagt sich in der Regel, dass die Kinder schlecht erzogen seien. Darüber wird dann viel diskutiert, die Zahl und Heftigkeit der Streitigkeiten über Erziehungsstile und -methoden in den letzten Jahren sind Legende.
    Meine Arbeit als Kinderpsychiater hat demgegenüber einen ganz anderen Schwerpunkt. Ich mache mir nicht so sehr Gedanken über diese Stile und Methoden, spreche auch nicht über die beliebten Themen Disziplin, Ordnung, Grenzen setzen oder andere Standardthemen der Diskussion. Ich beschäftige mich mit der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern, stelle die Frage, ob Kinder im Erwachsenen heute noch in ausreichendem Maße ein Gegenüber vorfinden, an dem sie sich orientieren und entwickeln können, an dem sie im besten Sinne des Wortes »er-wachsen« können.
    Diese Frage muss für die letzten Jahre in zunehmendem Maße mit Nein beantwortet werden. Kinder werden heute in großer Zahl im Rahmen einer Symbiose groß. So bezeichne ich eine Form der Beziehungsstörung, die sich hauptsächlich im familiären Rahmen, also zwischen Eltern und Kindern, beobachten lässt. Eltern unterscheiden dabei nicht mehr zwischen sich und ihrem Kind, sondern denken und handeln, als wenn es sich beim Nachwuchs um einen Teil ihrer selbst handeln würde. Aus diesem Grunde spreche ich von einer Symbiose, also einer Verschmelzung der Psyche
von Eltern und Kind. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass dieser Vorgang unbewusst ist. Es geht also nicht darum, schuldhaft Eltern vorzuwerfen, sie behandelten ihre Kinder falsch. Und eben deswegen geht es auch nicht um falsche oder fehlerhafte Erziehung.
    Die Erziehungsbemühungen von Eltern sind heute vielleicht größer denn je. Eltern interessieren sich für ihre Kinder, sie opfern ihre Zeit, sie kümmern sich zwischen A wie Aufstehen und Z wie Zubettgehen um alles, was ihre Kinder angeht. Und sie erziehen anders, als es in früheren Zeiten üblich war, weil sie gelernt haben, dass Härte und Druck in der Erziehung nichts zu suchen haben.
    Man sollte meinen, dass diese Entwicklung die Zunft der Kinderpsychiater zum Aussterben gebracht hätte. Das ist nicht der Fall. Fakt ist jedoch, dass ich in meiner Funktion heute mit ganz anderen Störungsbildern beschäftigt bin, deren Ursachen nicht mehr primär im Familiensystem liegen, sondern auf große Veränderungen im »System Gesellschaft« zurückzuführen sind.
    Wenn mir vor 15 Jahren ein Kind wegen bestimmter Auffälligkeiten vorgestellt wurde, lag die Ursache für das Verhalten des Kindes in den meisten Fällen in der individuellen Lebensgeschichte der Eltern. Dazu war es wichtig zu erfahren, wie die Eltern groß geworden sind und wie sie sich als Kind gefühlt haben. Manchmal spielte auch das Erleben der Schwangerschaft und der Geburt eine Rolle. Gerade negative Erlebnisse mit den eigenen Eltern konnten sich auf den Umgang mit den eigenen Kindern auswirken.
    Diese »klassischen« Fälle gibt es natürlich immer noch, doch mit der steten Zunahme der problematischen Fälle wurde mir deutlich, dass hier nicht mehr in jedem einzelnen
Fall eine solche individuelle Problemgeschichte vorliegen konnte, die für das nicht altersgemäße Verhalten verantwortlich war. Ganz offensichtlich hatte sich hier eine anders gelagerte Dynamik entwickelt, die es zu analysieren galt, um der neuen Herausforderungen Herr zu werden.
    Es geht eben nicht mehr primär um die Auswirkungen der eigenen Lebensgeschichte auf das Verhalten dem Kind gegenüber, sondern maßgeblich um gesellschaftliche Prozesse, die das Erwachsenen-Kind-Verhältnis verändern. Diese Erkenntnis ist immer mein Antrieb gewesen, mich mit der Thematik zu beschäftigen. Die Sorge um die Zukunft dieser Kinder und damit um die Zukunft unserer Gesellschaft war auch meine Triebfeder, meine Analyse bekannt zu machen. Damit sollten eindeutige Voraussetzungen geschaffen werden, gegensteuern zu
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