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Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein

Titel: Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
Autoren: Michael Winterhoff
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Wichtig in unserem Zusammenhang: Sie macht es aus dem Bauch heraus, denn würde sie den Säugling schreien lassen, führte das bei ihr selbst zu negativen körperlichen Reaktionen wie Schweißausbrüchen, Zittern und Ähnlichem. Sie wüsste intuitiv, dass sie sich falsch verhält, und würde Abhilfe schaffen, indem der Hunger des Kindes sofort gestillt wird.
    Dieselbe Intuition führt dazu, dass die Mutter ein Kind mit etwa acht oder neun Monaten auch mal einen Moment warten lassen kann. Das Schreien löst nicht mehr die gleichen körperlichen Unruhezeichen aus, sondern aus ihrer inneren Ruhe und Intuition heraus »weiß« die Mutter, dass ein kurzer Moment des Wartens für das Kind in Ordnung ist. Dieser Moment, so kurz er auch sein mag, ist für die Psyche des Kindes von großer Bedeutung; er würde dem Kind ermöglichen zu erleben, dass es einmal einen kleinen Augenblick warten muss. Diese wichtige Erfahrung, dass ein Bedürfnis nicht immer sofort zufriedengestellt wird, würde bei einer fortlaufenden psychischen Entwicklung im Kindes-und Jugendalter dazu führen, dass dieses Kind auf späteren Altersstufen seine Bedürfnisse zu regeln versteht.
    Als Erwachsene »wissen« wir, dass wir nicht immer alles sofort bekommen können. Dieses »Wissen« ist aber ein implizit psychisch angelegtes Wissen, das nicht auf einem verstandesmäßigen Erfassen beruht. Wir denken nicht dauernd darüber nach, ob wir ein Bedürfnis jetzt oder später befriedigen, sondern regeln solche Dinge ganz automatisch. Wenn ich in einer Besprechung sitze, stelle ich Bedürfnisse wie Hunger, Müdigkeit, emotionale Befindlichkeiten ganz selbstverständlich
zurück und konzentriere mich auf meinen Gesprächspartner und den Inhalt der Besprechung. Ich weiß, essen, schlafen, andere Bedürfnisse sind zu einem anderen Zeitpunkt dran.
    Die Frage, ab wann die Mutter ihr Kind einen kleinen Moment warten lassen kann, ist nicht über den Kopf zu steuern, sondern ausschließlich über das Bauchgefühl. Es kann kein Ratgeberwissen geben, das bestimmt, ob dieser Moment mit acht, mit neun oder auch erst mit zehn Monaten gekommen ist. Die Mutter selbst würde, wenn sie in einem intuitiven Verhältnis zu ihrem Kind ist, diesen Zeitpunkt bemerken und ab da ganz selbstverständlich so vorgehen. Auch die Länge des Wartens kann nicht vorgegeben werden. Die klassischen Ratschläge früherer Zeiten, in denen Eltern aufgefordert werden, in bestimmten Situationen bis zu einer bestimmten Zahl zu zählen, funktionieren so nicht. Das eine Kind kann eine Minute warten, das andere zwei. Die Mutter würde den richtigen Zeitraum auch hier wieder über die Beziehung zu ihrem Kind individuell herausfinden.
    Doch nicht nur Eltern, auch Erwachsene, die im Bereich der öffentlichen Erziehung mit Kindern zu tun haben, sind in Gefahr, mit unangemessenen Verhaltensweisen die kindliche Psyche zu belasten, wie folgendes Extrembeispiel zeigt. Es ist einem Blog entnommen und beschreibt Vorgänge an einer Berliner Grundschule in der Folge der katastrophalen Geschehnisse in Japan im Frühjahr 2011:
    »Was dieser Tage in der Schule meiner zwei Kinder (5. + 6. Klasse) abgeht, spottet jeder Beschreibung. Zum Teil kennt man das ja noch aus eigenen Schulzeiten, allerdings nicht aus der Grundschule. Dauernd musste man
über das Waldsterben, das Ozonloch und den Atomkrieg schreiben, und irgendwelche Friedens-AGs haben auf dem Schulhof »Fallout mit Sirenengeheul und anschließendem Niedersinken« oder »Hilfe-wir-haben-demnächst-alle-Haut-krebs« veranstaltet usw. Aber so richtig ernsthaft psychisch mitgenommen hat das damals niemanden, soweit ich mich erinnere.
    Das ist jetzt offenbar anders. Ein Drittel der 5. Klasse ist inzwischen abwesend; Panikattacken, Nahrungsverweigerung oder Schlafmangel. […]
    Innerhalb einer Woche haben die beiden im Unterricht jeweils drei Filme zu Atomkatastrophen gesehen (eine vom Schulministerium über Tschernobyl, einen Spielfilm über eine [Atom?-] Giftwolke in Deutschland und einen über, glaube ich, Hiroshima; mit geburtsdefekten Lämmchen und haufenweise Verbrennungen in Schwarzweiß), 1 x Strahlenschutzanzüge aus Alufolien entworfen, 2x an japanische Kinder, denen der Strahlentod droht, geschrieben, gefährliche Nahrungsmittel diskutiert, Milchpulver gehortet und an unzähligen Monologen der Lehrkräfte und der Stuhlkreisteilnehmer über ihre Angst vor dem Atom und dem Krebstod teilgenommen.« 1
    Das mag auf den ersten Blick extrem wirken, es zeigt
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