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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland
Autoren: Feridun Zaimoglu
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    zwerg
    Wie einer unglücklichen Dame Beistand aus dem Wald zuwächst und ein deutscher Schuhmachergeselle von seiner Pragerin an der
     Hand genommen und durch ihre Welt geführt wird
    Ihr Mann hatte sie wegen einer Jüngeren verlassen, und eines Nachts kam sie die Mitternachtsverzweiflung an, sie trank eine
     ganze Flasche polnischen Johannisbeerschnaps, sank auf den Fußboden und schlief ihren Rausch aus. Für eine Frau ihres Stolzes
     (ihr Kinn sinkt nie, niemals, auf die Blusenkragen) machte es keinen Unterschied, daß er der Mittzwanzigerin ihre erste chirurgische
     Korrektur finanziert hatte: Ihr gewesener Ehemann hält viel von Liebesbeweisen. Seine Neue steckt ihr teures Näschen in den
     Wind, und sie wird, spätestens in einem Jahr, begreifen, daß er begabt ist, grob zu werden, wann immer der Anfang seiner Zuneigung
     verwischt in seiner Erinnerung.
    Es ist nichts, es ist passiert, es gibt kein Zurück. Auch kein Zurück zu den Tagen, da sie ihre Freunde in Verlegenheit brachte,
     weil sie schreiend trank und betrunken schrie. Im Foyer eines Prager Theaters fiel sie nach der Vorstellung dem Hauptdarsteller
     derart heftig um den Hals, daß er glaubte, sie wollte ihn würgen, und er beschwerte sich bei der Intendantin, bei dem Journalisten
     und bei allen, die sie, die verlassene Ehefrau, kannten. Im kalten Licht des Mitleids zu stehen brachte sie fast um, alle
     benahmen sich, als spielten sie das Kinderspiel, bei dem es darum ging, angesichts einer Provokationeinen kühlen Kopf zu bewahren. Nein, das war noch nicht der Abend, an dem sie sich schwor, keine über viele Stunden betrunkene
     Frau sein zu wollen; nach diesem Abend gab es andere peinliche Abende, ihren beiden Katzen machte es nichts aus, daß sie schwankte,
     sie mußte sich immer hinsetzen, um ihre Futternäpfchen zu füllen. Sie mußte immer mit kleinen Schritten gehen, in ihrer Wohnung
     wie auf der Straße, und sie mußte sich beherrschen, um nicht ihre Fußknöchel aufzuschürfen an den hohen Bordsteinkanten. Leichter
     zu sein als die Luft ist ein Fluch, und sie war auf dem besten Wege, mit fünfzig Jahren eines baldigen Tages hinzufallen und
     nicht aufzustehen – ihre Farben verblaßten, denn sie war bleich und trug kein Make-up, ihre roten Seidenblusen, ihre hellblauen
     Röcke gab sie weg. Ihre Worte verschwanden, weil sie mitten im Satz ihren Glauben verlor, so wie man eine Kupfermünze oder
     einen kleingespitzten Bleistift im Utensilienköcher verschwinden läßt und vergißt. Sie geriet ins Wanken, sie war etwas schwerer
     als Luft, deshalb mußte sie sich festhalten: an Türgriffen, an Tischkanten, an den Unterarmen wildfremder Menschen, an den
     Ellbogen großer Kinder, an sich selbst.
    In dieser Zeit, da an ihrem weiten Pullover viele helle Katzenhaare klebten, kaufte sie alte Teesiebkapseln auf dem Flohmarkt,
     reinigte sie von den dunklen Flecken und wickelte die Ketten um die Nägel an dem morschen weißen Wegweiser, den sie im Wald
     gefunden hatte. (Eine Frau geht nicht im dunklen Wald spazieren, und wenn doch, so will sie mit den wispernden Wichteln einen
     Pakt schließen.) Sie bewegen sich selten, und wenn doch, hängen sie an den dicken Wurzeln, die die Erde durchbrochen haben.
     Über die Frau hatten sie noch kein Urteil gefällt: Sie war ein Eindringling mit einem ungeübten Auge, sie hielt sie für Wassertropfen
     oder für bunte Bänder, die sich an Holz und Stein verfangen hatten. Und die Wichtel ahnten, daß sie etwas tun mußten, also
     sperrten sie die Gehwege der Frau für böse Männer und böse Geister –sie tat ihnen nicht leid, sie wollten ihr nicht helfen, es ärgerte sie nur, daß man sie nicht sah, obwohl sie doch laut an
     Baumrinden nagten und von Wurzeln herunterhingen, manchmal stundenlang.
    Der Mann mit dem kleinsten Stand auf dem Flohmarkt hatte ihr von ihnen erzählt, er verkaufte den Trödel der roten Epoche,
     und nur die jungen Touristen stürzten sich auf die Wimpel, die Medaillen, die Anstecknadeln und die Russenmützen. Von diesem
     Mann hatte sie erfahren, daß es nicht ungefährlich war, in einem Waldhaus zu wohnen: Die Wichtel hüpften über das trockene
     Bachbett und wirbelten im Grund des Hauses, daß die Träume zerrissen im Schlaf. Die Frau aber wußte damals nur so viel, wie
     der Kummer es zuließ. (Die Bekümmerten drücken auf ihre Augen und glauben, daß sie weinen, sie pressen jedoch nur das Gift
     heraus, und es rinnt herunter und tropft in den Staub. Es tropft
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