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Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein

Titel: Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
Autoren: Michael Winterhoff
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differenzierten Blick auf Kinder, wie wir ihn heute also eigentlich haben, muss es doch verwundern, wenn die Kindheit als eigenständige, wunderbare Entwicklungsphase des Menschen mehr und mehr abgeschafft wird. Und zwar, obwohl wir es doch gerade als eine wichtige Errungenschaft der aufgeklärten Zeit betrachten dürfen, diesen Zeitabschnitt überhaupt als etwas Eigenständiges und Besonderes
zu betrachten. Seine Abschaffung kommt im Grunde einem Rollback ins Mittelalter gleich, in dem die Kindersozialisation dadurch stattfand, dass schon ziemlich schnell nach dem Säuglingsalter das Kind sich in die erwachsene Gesellschaft einzugliedern und in ihr mitzuhelfen hatte:
    »Die Dauer der Kindheit war auf das zarteste Kindesalter beschränkt, d. h. auf die Periode, wo das kleine Wesen nicht ohne fremde Hilfe auskommen kann; das Kind wurde also, kaum, dass es sich physisch zurechtfinden konnte, übergangslos zu den Erwachsenen gezählt, es teilte ihre Arbeit und ihre Spiele. Vom sehr kleinen Kind wurde es sofort zum jungen Menschen, ohne die Etappen der Jugend zu durchlaufen, die möglicherweise vor dem Mittelalter Geltung hatten und zu wesentlichen Aspekten der hochentwickelten Gesellschaften von heute geworden sind.« 3
    Es ist geradezu erschreckend, wie sehr wir manchmal heute wieder zu einer Sichtweise gelangt zu sein scheinen, in der »die Dauer der Kindheit auf das zarteste Kindesalter beschränkt« ist. Übertrieben gesprochen, hat man heute manchmal den Eindruck, unsere Kinder sollten als laufende, sprechende, denkende, sprich: fertige Individuen auf die Welt kommen. Sie sind kaum den Babyschuhen und dem Strampler entwachsen, da beginnt für sie der Stress. Entscheidungen treffen von morgens bis abends, Probleme bedenken, Zeitmanagement betreiben. All diese Dinge, die sich eindeutig der Erwachsenensphäre zuordnen lassen und nicht einmal dort ausschließlich positiv besetzt sind, muten
wir heute Kindern zu. Der partnerschaftliche Umgang mit Kindergartenkindern ist für diese ausnahmslos eine Überforderung. Im Grundschulalter liegt das Problem vor allem darin, dass partnerschaftliche Konzepte bei altersgemäß entwickelten Kindern durchaus in einem gewissen Rahmen erfolgreich sein können, bei Kindern mit Entwicklungsstörungen sich jedoch fatal auswirken.
    Wir haben uns längst daran gewöhnt, am Frühstücks-oder Abendbrottisch im Beisein von sieben- oder achtjährigen Kindern die finanzielle Situation der Familie zu diskutieren. Weist jemand auf diesen Umstand hin, wird oft genug erstaunt geantwortet, die Kinder hätten doch wohl ein Recht darauf, über familieninterne Dinge Bescheid zu wissen, sie seien schließlich vollwertige Familienmitglieder.
    Genau das sind sie auch. Und als solche vollwertigen Familienmitglieder haben sie Anspruch darauf, in ihrer Individualität wahrgenommen und respektiert zu werden. Das ist bei Achtjährigen allerdings nicht der Fall, wenn von ihnen erwartet wird, etwa Verständnis für die Probleme bei der Rückzahlung eines Kredites aufzubringen oder gar Verbesserungsvorschläge zu machen.
    Kinder sollen heute vielfach wichtige Entscheidungen in der Familie unabhängig vom Alter mittreffen. Bei der Urlaubsplanung geht es nicht mehr darum, dass die Kinder überlegen, welche Spielsachen sie mitnehmen wollen, sondern sie sitzen von Beginn an mit am Verhandlungstisch und beeinflussen die Entscheidungen über Ort, Termin und Art der Logis. Ein guter Gradmesser für solche Veränderungen in der Gesellschaft sind Werbespots im TV. Deren einzige Funktion ist es, Produkte zu verkaufen. Und das geht
am besten, wenn man sympathisch die Lebenswirklichkeit von Menschen nachbildet. Setzten Spots der AutomobilHersteller früher eher auf die elegante oder sportliche Wirkung des Fahrzeugs selbst, so werden heute zunehmend Kinder in die Spots eingebaut, die den Erwachsenen erzählen, warum sie ein bestimmtes Auto brauchen. Das wirkt, weil es daheim genauso läuft, und es verstärkt dieses Verhalten zusätzlich.
    Überlegungen zur Angemessenheit dieses Vorgehens werden häufig genug gar nicht mehr angestellt. Überforderung ist kein Thema, weil gar nicht mehr gesehen wird, dass die als kleine Erwachsene gesehenen Kinder überfordert werden könnten. Man traut ihnen alles zu und ist noch stolz darauf. Eltern, die ihre Kinder solchermaßen einbeziehen, halten sich viel auf ihr partnerschaftliches Erziehungsmodell zugute und versuchen damit, dem gerecht zu werden, was in der Diskussion oft diffus als
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