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- Lasst die Toten ruhen

- Lasst die Toten ruhen

Titel: - Lasst die Toten ruhen
Autoren: Oliver Kotowski
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Windlichter leuchten und ein Wagen hielt vor dem Portal des Schlosses. Alles eilte hinaus, den Kommenden zu empfangen, und Leodogar sank in die geöffneten Arme seiner Liebsten.
    Die Freude des Wiedersehens war vonseiten der Eltern und Eugenies umso größer, je länger man vergeblich auf den Kommenden gewartet hatte, der durch einen sonderbaren Zufall aufgehalten worden war. Sein Weg hatte ihn nämlich durch die Besitzungen eines Edelmanns geführt, und als er daselbst an [3] einer Kirche vorbeigekommen war, hatte er deutlich seinen Namen rufen hören. Er ließ sogleich halten und umging die Kirche, fand aber niemanden, der ihn hätte gerufen haben können. Schon wollte er, da er glaubte, seine Sinne hätten ihn getäuscht, seine Reise fortsetzen, als er abermals gerufen wurde. Sein wiederholtes Suchen war wiederum vergebens, obgleich diesmal selbst die Bedienten die Stimme vernommen hatten. Als er nun, ohne den Rufer entdeckt zu haben, sich fortbegeben wollte, erscholl der Ruf zum dritten Mal. Die Kirche war verschlossen und sonst nirgends ein Ort, wo sich jemand hätte verbergen können; natürlich glaubte er den Rufenden im Inneren der Kirche versteckt. Er sandte deshalb einen Bedienten zum Gutsbesitzer und ließ um die Kirchenschlüssel bitten. Der Gutsherr, ein alter herrischer Mann, kam selbst und versicherte dem Reisenden, er würde niemanden in der Kirche finden, dergleichen Neckereien aber, die wahrscheinlich von irren Geistern herrührten, wären hier seit Menschengedenken nichts Seltenes, und vorzüglich nachdem seit länger als dreißig Jahren ein Fräulein, die als Braut gestorben, in der zur Familiengruft bestimmten hinteren Abteilung der Kirche beigesetzt sei. Graf Leodogar bat dennoch um die Öffnung der Kirche und ließ sich den Sarg des Fräuleins zeigen. Der Kirchenpatron begann nun eine lange wunderbare Geschichte von dem Schicksal der Verstorbenen, nach deren Beendigung Leodogar gerührt ausrief: »Arme Blume, deren Lenz so früh verblühte, wer entschädigt dich für den eingebüßten Anteil an Lebensfreuden?« Da hörte man ein tiefes, schmerzhaftes Stöhnen, welches aus dem Sarge zu kommen schien und sämtliche Anwesenden bis ins Innerste erschütterte. Alles verließ sogleich voll Schrecken die Kirche. Der Gutsherr bat Leodogar, bei ihm einzusprechen, und dieser nahm die Einladung um so williger an, als er nach dem gehabten Schrecken der Erholung wirklich bedurfte. Sowohl sein Gastfreund als er suchten, sich bei kälterem Blute das grauenhafte Gestöhne natürlich zu erklären, und waren nicht abgeneigt, es für den schlechten Spaß irgendeines vorwitzigen Bedienten zu halten. Allein der dreimalige Ruf ließ sich doch schlechterdings nicht auf eine natürliche Art deuten, und denn blieb auch der Kirchenpatron dabei, dass sich schon öfter in der Nähe der Kirche unheimliche Dinge zugetragen hätten.
    Diese Erzählung, die Leodogar während der Abendtafel vortrug, mischte einen Wermutstropfen in den Freudenkelch des Wiedersehens, da sowohl die Eltern als die Braut an eine unglückliche Beziehung des schauerlichen Rufs auf das Leben Leodogars dachten und deshalb mit ängstigenden Ahnungen erfüllt wurden. Die letzte Spur des Frohsinns verlor sich aber, als Leodogar seinen Vater fragte, weshalb er die sonderbare Beleuchtung des Grabgewölbes veranstaltet habe und was die drei daneben tanzenden Figuren zu bedeuten gehabt hätten? Der alte Graf sah den Fragenden erstaunt an und blieb ihm die Antwort schuldig; die Gräfin, wohl bemerkend, was in ihrem Gemahle vorging, lenkte das Gespräch schnell auf andere Gegenstände. Eugenie aber saß erblassend und in sich versunken da und erhielt Farbe und Sprache erst nach einer geraumen Zeit wieder.
    Leodogar fühlte sich nach seiner Rückkehr unaussprechlich glücklich. Die geliebte Heimat hatte durch seine jahrelange Entfernung neue Reize für ihn erhalten. Alle Tummelplätze seiner Knabenzeit, alle Lieblingsorte seines Jünglingsalters besuchte er, und die Erinnerung an eine froh daselbst verlebte Jugend verschönerte sie ihm. Er hatte auf seinen Reisen einen Schatz von Kenntnissen und Erfahrungen, von neuen Ideen und Bildern gesammelt, sein Verstand war ausgebildet, seine Fantasie geläutert und erweitert, sein Gefühl verfeinert, seine geistige und physische Kraft erstarkt. Er hatte das Leben im edleren Sinne genossen, hatte mit der großen Welt verkehrt, ohne dabei seine Sittenreinheit einzubüßen, war ein aufmerksamer, teilnehmender Beobachter der
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