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- Lasst die Toten ruhen

- Lasst die Toten ruhen

Titel: - Lasst die Toten ruhen
Autoren: Oliver Kotowski
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einen Eingeweihten geheimer Wissenschaften, doch, um diese Vermutung zu begründen, fehlten alle genaueren Merkmale. Was er liebte oder hasste, konnte niemand sagen; sein Leben glich einer Hieroglyphenschrift, deren Schlüssel verloren gegangen ist.
    Der Domherr hatte jedes Mal, wenn ihm ein Sterbefall des gräflichen Hauses mit den rätselhaften Umständen gemeldet worden war, in seinem lakonischen Antwortschreiben geäußert: Man sollte die übrigen Kinder auf Reisen oder irgendwo auswärts senden, da ihnen der Aufenthalt im elterlichen Haus nicht zuträglich sei; man hatte nie auf diesen durch keine angegebene Ursache begründeten Rat geachtet. Jetzt aber, als er schrieb: Schickt den Leodogar ungesäumt auf Reisen, wenn ihr nicht bald mit ihm den letzten Zweig eures Stammes begraben wollt, da wurden die unglücklichen Eltern von der Furcht, ihre letzte Hoffnung zu verlieren, bewogen, dem Rat des alten Oheims zu folgen und sich, wie schwer es ihrem Herzen auch wurde, von dem geliebten Sohne zu trennen, der nun auf Reisen ging.
    Drei Jahre hatte Leodogar in der Schweiz, Frankreich und Italien zugebracht, als dem alten Grafen die Öde seines Hauses unerträglich wurde und er den Sohn zur Rückkehr aufforderte. Zwar geschah solches gegen das ausdrückliche Verbot des alten Domherrn, welcher bestimmt erklärt hatte, Leodogar dürfe das Vaterhaus noch nicht wieder betreten; allein die Eltern sehnten sich zu sehr nach ihrem Kinde, um noch länger einem durch keinen Grund motivierten Gebot eines rätselhaften Greises zu gehorsamen. Der Graf schrieb an Leodogar, der sich gerade in Neapel befand, und machte ihm die schnellste Rückkehr zur Pflicht, und dieser folgte gern dem Rufe zur geliebten Heimat.
    Mit noch mehr Ungeduld, mit einer noch schmerzlicheren Sehnsucht wie seine Eltern erwartete Fräulein Eugenie, die Pflegetochter der Gräfin, Leodogars Rückkehr. Früh verwaist war sie in das zellensteinsche Haus, mit welchem sie durch die Gräfin nahe verwandt war, aufgenommen und gleich einem eigenen Kinde auf das Sorgfältigste erzogen worden. Die heranwachsende Jungfrau entwickelte jenen seltenen Liebreiz, der zwar nicht bei dem ersten Anblick bezaubert und hinreißt, aber nach und nach einen desto tieferen und dauernden Eindruck macht. War ihr Wuchs gleich schlank wie der einer jungen Pappel, ihre Farbe ein zartes Zusammenschmelzen von Blütenschnee und Rosenglut, ihre Stimme silberreines Metall, ihr Bild von innigsten Gefühlen belebt, ihr Mund unbeschreiblich schön; so konnte man doch wohl alle diese Vorzüge vielleicht einzeln bei andern Jungfrauen in einem noch holderen Grade finden, aber die bewunderungswürdig harmonische Verschmelzung aller dieser Einzelheiten zu einem vollendeten Ganzen gab Eugenie eine Anmut, die jeden Mann, der sie näher kennenlernte, unwiderstehlich einnahm. Zartheit war eine vorherrschende Eigenschaft ihres Körpers; zart wie dieser war ihre Denkart, war ihr Gemüt. Noch in ihrem frühen Kindesalter Zeugin von dem unermesslichen Seelenleiden einer geliebten Mutter, dann durch den Tod derselben aus dem Kreise ihrer Gespielinnen und lieb gewordener Verhältnisse gerissen, konnte sie dem gesellschaftlichen Leben wenig Geschmack abgewinnen und schuf sich eine Idealwelt, in der sie lebte und mit der sie mehr wie mit der wirklichen verkehrte. Sie mied schüchtern die rauschenden Vergnügen glänzender Zirkel, ihr Gefühl wurde von der Leichtigkeit und Herzlosigkeit des großen Haufens unter den vornehmen Ständen verletzt, und die Einsamkeit war ihr ein Bedürfnis. Die Gräfin Zellenstein, diese Anlage zur Schwärmerei ihrer Pflegetochter bemerkend und deren Folgen fürchtend, unterließ nicht derselben nach Kräften entgegenzuwirken, wodurch sie Eugenie, von der sie übrigens wie eine Mutter geliebt wurde, ohne es zu wollen, viele trübe Stunden machte. Graf Leodogar, ein zwar lebhafter, aber gutmütiger Jüngling, kannte die Empfindungen seiner schönen Base besser wie seine Mutter und bemühte sich durch seine Teilnahme sie mit ihrem Verhältnisse auszusöhnen. Er wurde der Vertraute Eugenies, ihr inniger Freund und endlich ihr Liebhaber. Eugenie erschrak, als auch sie eine Neigung zu Leodogar in sich bemerkte, und wollte sich von ihm zurückziehen. Schon längst hatte sie den Gedanken genährt, in ein Kloster zu gehen und ihr Leben ausschließlich der Andacht in der frommen Selbstbeschauung zu widmen. Sie hatte sich das Klosterleben als ihrer Gemütsbestimmung angemessen, als höchst
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