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Landleben

Landleben

Titel: Landleben
Autoren: John Updike
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als könn-
te im nächsten Moment eine Schrotflinte sie zerfetzen – hat
sein eigenes Netzwerk für gemeinsame Kümmernisse und
Kommunikation; für sie ist die Menschenwelt kaum mehr
als eine flirrende Randerscheinung, ein unerforschliches
Knistern, eine intermittierende Interferenz, die selten
todbringend ist und keine Beziehung zu dem organischen
Überfluss (dem Abfall, den Gärten) erkennen lässt, den die
menschliche Spezies an den Tisch der Natur bringt. Sie be-
achten uns nicht, denkt Owen. Wir sollten Götter für sie sein,
aber sie haben nicht unsere Fähigkeit zur Verehrung – zur
Voraussicht und zu den Schrecken und der verqueren geis-
tigen Kriecherei, wie sie die Voraussicht mit sich bringt,
die Erfindung eines Lebens nach dem Tod eingeschlossen.
Tiere unterscheiden nicht zwischen uns und den anderen
Geschöpfen oder zwischen uns und den Steinen und den
Bäumen, alle mit ihrem eigenen Geruch und ihrer eige-
nen Bedeutung für den Existenzkampf. Die Erde bietet
Skorpionen und Waldmurmeltieren und Quintillionen von
Ameisen Zuflucht, die Sterne leiten die kanadischen Wild-
gänse und arktischen Seeschwalben, die Rauchschwalben
und die Chrysippusfalter bei ihren immensen jährlichen
Migrationen. Wir sind nicht mehr als Punkte unter ihren
Flügeln, unsere Städte sind übel riechende und unfrucht-
bare Unterbrechungen in dem Diskurs von Raubtier und
Beute. Nein, keine Unterbrechungen, denn viele Gattun-
gen akzeptieren unsere Städte als Habitat, nicht nur die   Ratten im Keller und die Fledermäuse im Dachgestühl,
sondern auch die Mäusebussarde und Tauben auf den
Kanten der Wolkenkratzer, und neuerdings die Rehe, die
unverfroren und hilflos durch unsere Vorortgärten staksen,
gehätschelt und gehasst.
    Owen spannt die Unterlippe, um mit dem Rasierer den
kitzligen seitlichen Strich zu machen. Er versucht sich
zu rasieren, ohne sein Gesicht zu sehen, das niemals das
Gesicht gewesen ist, das er sich gewünscht hätte – zu viel
Nase, nicht genug Kinn. Eine einladende Schwäche und
dennoch eine scharfäugige Wachsamkeit. In letzter Zeit zie-
hen Falten die Mundwinkel herunter, und die Augenlider
sind schrumplig wie bei einem Wüstenreptil, sodass sich
morgens die Falten verfangen und an den Wimpern hängen
bleiben. Er hasst das ihm vertraute Gefühl, etwas im Auge
zu haben, das sich nicht fassen lässt, aber stört. Pollen. Eine
Wimper. Ein geplatztes Äderchen. Hinter ihm, durch die
isolierende Wand des Waldes, künden Motorengeräusche,
Fehlzündungen und das Piepen rückwärts fahrender Last-
wagen von dem kümmerlichen, ein oder zwei Blöcke um-
fassenden Geschäftsviertel von Haskells Crossing; es ist
hörbar, aber nicht sichtbar von seinem Haus in der grünen
Verschwiegenheit auf der Anhöhe. Obwohl er die Lichter
der Stadt von den oberen Fenstern im Haus deutlich sehen
kann, hat er in der Stadt nie einen Punkt gefunden, von
dem aus sein Haus sichtbar wäre. Das gefällt ihm, es ist wie
sein Bewusstsein – unsichtbar, aber im Mittelpunkt.
    Als Kind hatte er angenommen, dass die Welt irgendwie
durch sein Erwachen in Bewegung gesetzt wurde. Was pas-
sierte, ehe er aufwachte, war wie die Zeit vor seiner Geburt,
eine Leere, über die er nicht nachdenken konnte. Es über-
rascht ihn immer, wie früh in kleinen und ebenso in großen Städten die Morgenaktivitäten beginnen, nicht nur bei den
sprichwörtlichen, Würmer pickenden Vögeln, sondern auch
bei den Menschen – die Pendler, die den Zug um 6.11 Uhr
erreichen müssen, der Besitzer der Obsthandlung in der
Stadt, schon zurück vom Großmarkt beim Callahan-Tun-
nel mit seinem Lastwagen, die jungen joggenden Mütter,
die ihre Meilen schon hinter sich haben, wenn sie mit ihren
Kindern an der Bushaltestelle stehen, die Taugenichtse der
Stadt, die schon auf der Bank am Kriegerdenkmal Posten
bezogen haben, dort, neben dem alten Backsteinbau der
Feuerwache, auf der anderen Seite der Hauptstraße und
gegenüber der Bäckerei. Der Bäcker, ein schlecht rasierter
Frankokanadier mit seiner von zu vielen Zigaretten einge-
sunkenen Brust, ist schon seit vier Uhr auf und verbreitet
in der kalten Luft das Aroma von backenden Croissants,
Zimtbrötchen und Blaubeer-Muffins.
    Owen sieht das alles vor seinem geistigen Auge, wäh-
rend er den Rest der Rasierseife abschabt und dabei sein zu
kleines Kinn vorstreckt, um die schlaffen Falten darunter
zu straffen. Die Feuerwache, wenn Sie es wissen wollen, ist
ein mit Ornamenten versehenes Gebäude aus dem neun-
zehnten
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