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Landleben

Landleben

Titel: Landleben
Autoren: John Updike
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der Alton Pike, zogen; die hatte in der
Mitte Straßenbahnschienen. Als Owen 1933 zur Welt kam
und, in Ermangelung eines anderen Zuhauses, in das Haus
seines Großvaters in Willow gebracht wurde, war Roosevelt
noch frisch im Amt, und der Ort, benannt nach einem rie-
sigen alten Baum direkt neben dem Gasthaus, dessen Wur-
zeln ihr Wasser aus dem Creek bezogen, der sich in Rich-
tung Philadelphia schlängelte, war als Bezirk eingemeindet
worden. Neue Straßen, parallel zur Mifflin Avenue, waren
entstanden – Second Street, dann Third Street und Fourth
Street kletterten einen Hügel hinauf, den die Kinder im
Winter auf fest gepresstem Schnee mit Schlitten hinun-
terfuhren, um dann über die abgesperrten Kreuzungen
zu donnern, bis die Fahrt unter flirrenden Funken auf ei-
nem Bett aus Asche endete – städtische Arbeiter hatten sie
von einem Lastwagen geschaufelt. Die Funken, der feste
Schnee, die Weihnachtsbäume in den Wohnzimmern den
ganzen Weg zur Schule hin – all dies dauerte nur ein paar
Tage, eine Unterbrechung des trüben, nasskalten Winters,
aber es begründete Erinnerungen, die das ganze Jahr hin-
durch anhielten und in der virtuellen Ewigkeit eines Kin-
des die Zeit vorantrieben.
    Das warme Wetter dauerte von März bis Oktober. Dunst
legte sich über Willow. Von Owens kleinem Zimmer mit
den holzgetäfelten Wänden und dem einen Bücherbord
blickte man auf ein unbebautes Grundstück, wo er oft mit
den anderen Kindern aus der Nachbarschaft spielte, in der Stunde nach dem Abendessen im Sommer, in milchigem
Zwielicht; das lange Gras war stachlig, drauf und dran,
sich auszusäen. Fungo, Dosenwerfen, Touch Football: Die
Mädchen spielten alles mit, denn in der Nachbarschaft
gab es mehr Mädchen als Jungen. Einmal fand Owen in
dem struppigen, flachen, vom Tau nassen Gras – denn es
war Herbst, und die Schule hatte wieder begonnen – seine
Brille in dem braunen Etui mit dem Schnappverschluss,
die ein paar Tage vorher verschwunden war. Gefunden! Er
hatte überall im Haus gesucht, und seine Mutter hatte ihm
anvertraut, welch ein Kummer es für seinen armen Vater
wäre, wenn er eine Ersatzbrille bezahlen müsste. Es war
ein Wunder, so kam es dem Kind vor, als es sich bückte
und das Etui in die Hand nahm, feucht von den Tagen
und Nächten, in denen es geduldig darauf gewartet hat-
te, dass der Junge es fände. Drinnen, ja, da war die Gold-
randbrille, die sein Sehvermögen schärfte, mit den kleinen
bohnenförmigen Plättchen, die Abdrücke auf seiner Nase
hinterließen, und den gebogenen Metallbügeln, die hinter
seinen Ohren drückten. Als man ihm in der zweiten Klasse
gesagt hatte, dass er zum Lesen und im Kino eine Brille
tragen müsse, hatte er geweint. Eines Tages, so tröstete er
sich, würde er aus der Brille herauswachsen. Vielleicht war
es kein ganz richtiges Wunder, dass er sie gefunden hatte,
denn er benutzte den diagonalen Weg durch das Unkraut
jeden Tag, wenn er zu Buddy Rourke ging, seinem Freund
aus der Klasse über ihm, damit sie zusammen zur Schule
gingen, abseits von dem Mädchenschwarm aus der Second
Street. Buddy hatte keinen Vater, wodurch er merkwürdig
und etwas beängstigend war. Er war launisch, und seine
Augenbrauen wuchsen in der Mitte zusammen. Er hatte
glattes, borstiges Haar, das nach vorn abstand, und einen Mund, der nie lächelte, wegen der Zahnspange, einem
glänzenden Metallbügel mit einem Silberviereck in der
Mitte eines jeden Zahns. Owen wollte zurücklaufen und
seiner Mutter sagen, dass er seine Brille gefunden habe
und dass sein Vater nicht für eine neue bezahlen müsse,
aber er wollte auch nicht zu spät zu Buddy kommen, und
so hastete er weiter, und das gefundene Etui machte die
Tasche seiner Knickerbocker feucht, sodass die Haut an
seinem Oberschenkel kribbelte.
     
    Von derselben Seite des Hauses, jenseits des unbebauten
Grundstücks, hörte Owen an einem anderen Morgen den
Knall eines Schusses. Er hatte noch geschlafen. Es war, als
wäre er in dem Moment aufgewacht, bevor er wie in einem
Traum den Knall, der ihn weckte, gehört hatte. Er hatte
genügend Gangsterfilme gesehen, um das Geräusch explo-
dierenden Schießpulvers zu kennen, aber im Film hörte
man es in Wellen von Maschinengewehrfeuer, während
dies ein einzelner, einsamer Knall war.
    Auch seine Eltern hatten es gehört, denn sie regten sich
in ihrem Schlafzimmer, hinter der geschlossenen Tür, und
die beiden Stimmen, männlich und weiblich, verwoben
sich und verstummten dann wieder. Es war draußen
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