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Ein toedlicher Plan

Titel: Ein toedlicher Plan
Autoren: Jeffrey Deaver
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In der Nacht schläft die Anwaltskanzlei.
    Voller Schatten, aber nicht wirklich dunkel, ruhig, aber nicht still, gleicht die Kanzlei nicht anderen Büros wie zum Beispiel denen von Banken oder Aktiengesellschaften, Museen, Konzerthallen oder den dumpf brütenden Apartments ohne Namen, die groß und klein die Insel Manhattan füllen. Die Kanzlei unterscheidet sich von ihnen, weil ihre Seele bleibt, auch wenn keine Mitarbeiter mehr da sind. Ähnlich einem viktorianischen Landhaus besitzen ihre Hallen und Flure eigene Charakterzüge – vererbt wie geprägt von Willenskraft, Ehrgeiz und Intrigen. Hier hängt am Ende eines breiten, mit edlen Tapeten beklebten Ganges das Porträt eines würdigen Herrn mit mächtigem Schnauzer und Backenbart – eines Mannes, der die Sozietät verließ, um Gouverneur des Staates New York zu werden.
    Im kleinen Foyer mit frischem Blumenschmuck fällt der Blick auf einen erlesenen Fragonard, der weder von dickem Glas noch von einer Alarmanlage geschützt wird.
    Und drüben, im großen Konferenzraum, stapeln sich Berge von Papieren mit den magischen Worten, die das Gesetz verlangt, um eine Klage über hundertsechzig Millionen Dollar anzustrengen. In einem ähnlichen Raum etwas weiter den Flur hinunter findet sich eine vergleichbare Menge von Papieren, die man in dunkelblauen Aktenordnern abgeheftet hat, darunter die Satzung einer gemeinnützigen Stiftung, die privater AIDS-Forschung eine finanzielle Grundlage verschafft.
    Schließlich ist da ein fest verschlossener Aktensafe, in dem das Testament mit den letztwilligen Verfügungen des zehntreichsten Mannes der Welt verwahrt wird.
    Heute schläft die Kanzlei wie ein Wesen, das auf sich gestellt ist, und sein sonorer Atem klingt wie das weiße Rauschen nach Macht, Geld und Bedeutung. Man kann diese Laute selbst jetzt, mitten in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag, hören.
    Doch plötzlich eine Störung. Ein hartes Geräusch pflanzt sich durch die trockene Luft fort. Ein widerhallendes Einschnappen von Metall, ein unpassender Laut wie ein unwillkürliches Aufstöhnen im Traum. Dann das leise Zischen einer Tür, die geschlossen wird, und dem folgt das Wispern von Schritten, die sich rasch über den Teppich zurückziehen. Jemand flieht durch die düsteren Gänge, die solch dringliche Hast nicht gewöhnt sind. Als eine weitere Tür ins Schloss gezogen wird, kehrt erneut Frieden ein. Der Traum – oder Albtraum – ist vergangen, und die Kanzlei findet wieder zu ihrem vornehmen, satten, doch wachsamen Schlaf.

…Eins
    Als ihr Telefon klingelte, dachte Taylor Lockwood gerade darüber nach, warum man die fünfzehnte Etage Halsted Street nannte.
    Irgendwann in den Siebzigerjahren hatte die Kanzlei heftig einen jungen Juristen umworben. Der hatte sein Staatsexamen an der juristischen Fakultät der University of Chicago und seinen Doktor »magna cum laude« gemacht, war Schreiber der Verbindung »Der Siebente Kreis« und besaß auch sonst alles, was zum Geschäft gehört. In ihrem Bestreben, den jungen Mann unbedingt für die Kanzlei zu gewinnen, führten die Senioranwälte ihn durch die Büros. Er stieg die Marmortreppe zum fünfzehnten Stockwerk hinunter, wo die nichtjuristischen Mitarbeiter und Anwaltsassistenten tätig waren. Als er dort die vierzig Arbeitsbereiche mit den brusthohen Raumteilern erblickte, die Verschlägen glichen, sagte er: »Ha, das sieht wie die Halsted Street aus!« Er grinste. Die ihn begleitenden Anwälte lächelten ebenfalls, doch keiner von ihnen besaß genug Geistesgegenwart oder den Mut, den jungen Mann zu fragen, was er damit meine.
    Als er wenige Tage später die Stelle ablehnte, die ihm von der Kanzlei angeboten worden war, hatte sich seine Bezeichnung für das Großraumbüro wie ein Lauffeuer durch die ganze Kanzlei verbreitet. Und seitdem hatte sich Halsted Street als Synonym für den Arbeitsbereich der Gehilfen, Schreibkräfte und Assistenten im Hause etabliert.
    Taylor folgte der vorherrschenden Meinung, wonach der junge Mann mit dem Straßennamen auf die Viehstallungen bei den Schlachthöfen auf der South Side von Chicago angespielt hatte. Als sie heute Morgen in ihrem winzigen Büro saß, kam sie zu dem Schluss, dass es sich bei dieser Theorie um die einzig richtige handeln musste. Es war der Dienstagmorgen nach Thanksgiving, und die Uhr zeigte halb neun. Seit drei Uhr früh war sie damit beschäftigt gewesen, zwischen dem Kopierraum und einem Konferenzsaal hin und her zu laufen, und hatte einige hundert
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