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Landleben

Landleben

Titel: Landleben
Autoren: John Updike
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sechziger und siebziger Jahren in der Stadt Middle
Falls, Connecticut, gelebt haben. Seine Hand umfasst sei-
nen schlaftrunkenen Schwanz, und er erlebt wieder, wie er
eine von ihnen unter sich, neben sich, über sich hat, wie sie
sich das Haar zurückstreicht und das Gesicht über seinen
geschwollenen Mittelpunkt beugt, dessen Nerven sich al-
lesamt nach feuchter, wissender Berührung drängen; aber
heute ist kein solcher Tag. Die kräftiger werdende weiße
Frühlingssonne scheint schonungslos gleißend unter der
Jalousie hervor. Die wirkliche Welt, ein von seinem Traum
unverletzter Tiger, wartet. Es ist Zeit, aufzustehen und ei-         nen Tag anzugehen, der dem gestrigen Tag ähnelt, einen
Tag, von dem sein animalischer Optimismus annimmt,
dass er der erste einer Reihe sich endlos in die Zukunft er-
streckender Tage ist, von dem jedoch sein – in der Gattung
Homo sapiens hypertrophiertes – Zerebrum weiß, dass es
ein weiterer Tag eines abnehmenden, begrenzten Vorrats
ist.
    Rings um ihrer beider private Anhöhe erwacht die so ge-
nannte Kleinstadt Haskells Crossing. Das gleich bleibende
dumpfe Rauschen des Verkehrs dringt durch die Hauswän-
de aus Holz und Gips und durch den isolierenden Wald
dahinter. Die Zeitungen – der Boston Globe für ihn, die New
York Times für sie – sind bereits zugestellt worden. Die Vö-
gel sind schon seit langem im Gang, die Drosseln picken
nach Würmern, die Krähen bohren ihren Schnabel in den
Rasen, auf der Suche nach Larven von Getreidewanzen,
die Schwalben schnappen sich Mücken aus der Luft, die
verschiedenen Arten rufen einander zu, jede in ihrem ei-
genen jubilierenden, von ihrem erbsengroßen Hirn entwi-
ckelten Code. Auf dem Weg zum Badezimmer ruft er nach
unten: «Guten Morgen, Julia!»
    Ihr Ruf schallt zurück: «Owen! Du bist auf!»
    «Schätzchen, natürlich bin ich auf. Mein Güte, es ist
schon nach sieben Uhr.»
    Je älter sie werden, desto mehr reden sie wie Kinder. Ju-
lias Stimme dringt nach oben, ein wenig vorwurfsvoll, halb
scherzhaft: «Du schläfst immer bis acht, seit du nicht mehr
pünktlich am Zug sein müsse.»
    «Liebling, wie du lügst! Ich schlafe niemals länger als
bis sieben. Ich wünschte, ich könnte es», redet er weiter,
ist sich allerdings nicht sicher, ob sie nicht von der Treppe
weggegangen ist und ihn gar nicht mehr hören kann, «aber das ist etwas, das mit dem Alter kommt, man steht mit den
Vögeln auf. Warte nur, bis es dich trifft.»
    Dies ist ehelicher Schwachsinn – siehe Codes erbsen-
großer Hirne! Wenn der Tag ein Computer wäre, denkt er,
dann ist dies das Boot-up, das Wiederladen des Main Me-
mory. Julia schläft tatsächlich weniger als er (wie schon sei-
ne erste Frau, Phyllis), aber dass sie fünf Jahre jünger ist, ist
ihm immer eine Quelle des Stolzes und des sexuellen Rei-
zes gewesen, ähnlich wie der Anblick ihrer Zehen vorn in
ihren blauen Flip-Flops. Was er auch gern sieht, sind unter
ihrem Morgenmantel ihre rosa Fersen, wenn sie sich ent-
fernen, die senkrechten Stränge ihrer Achillessehnen, ein
schneller, fester Schritt nach dem andern, die Füße nach
außen gedreht, wie Frauen es tun.
    Sie führen dieses Gespräch, während er mit schmerzen-
der Blase vor der Tür seines Badezimmers steht, bei der
Treppe, die zur Küche hinunterführt. Das Bild seiner ge-
liebten Julia, wie sie nackt und tot in seinem Traum dalag,
und das Traumempfinden von Schuld, das ihren Suizid in
Wirklichkeit zu einem von ihm begangenen Mord machte,
sind noch lebendiger als die täglichen Fakten im Wach-
sein – die Tapete mit den sepia Rosen und dem stumpf
metallischen Glanz, der neue Teppich im Flur mit den fri-
schen beigefarbenen Noppen und der dicken, federnden
Teppichunterlage, der bevorstehende Tag mit den Stun-
den, die es wie Sprossen auf einer alten, gefährlichen, split-
ternden Leiter zu erklimmen gilt.
    Während Owen sich vor dem am Fenster angebrachten
Spiegel rasiert, wo sein lappiges und von der Sonne beschä-
digtes Gesicht, grausam vergrößert, das mitleidlose Licht
frontal entgegennimmt, hört er die Spottdrossel, wie sie
auf ihrem Lieblingszweig ganz oben in der höchsten Zeder  eine aufregende, endlose Schimpftirade gegen irgendet-
was, eine nebensächliche, chronische Routineangelegen-
heit von sich gibt. Alles Leben da draußen – die Vögel, die
Insekten, die Blumen, die verstohlene Tierwelt der Strei-
fenhörnchen und Waldmurmeltiere, die aus ihren Schlupf-
löchern huschen und wieder darin verschwinden,
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