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Landleben

Landleben

Titel: Landleben
Autoren: John Updike
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Ketten
    knackten und zerrten, rüttelten an dem Rohrgestell und
    zogen sie zurück, wenn Ginger aus der Horizontale zu fal-
    len drohte, und doch nahm sie neuen Schwung, die brau-
    nen Beine steif vor sich hingestreckt. Er sah zu, wie ihre
    Füße in den rissigen, abgestoßenen Lederschuhen in den
    Himmel stießen. Damals trug er im Sommer knöchelhohe
    Sneakers, aber die Mädchen hatten richtige Schuhe an, mit
    Schnürbändern und glatten Sohlen.
    Zum Spielplatz kam man über einen schmalen Gang
    hinter Owens Haus, weiter auf einem Pfad zwischen zwei
    Maisfeldern und dann auf einem grasüberwachsenen Weg
    zwischen den Tribünen des Baseball-Felds und einer Rei-
    he Kirschbäume, die dort wild wuchsen. Ginger kletterte
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    oft mit ihren rutschigen Schuhen auf diese Bäume, höher
    als Owen es je gewagt hätte. Er sah ihr zu, wie sie empor-
    klomm, aber wenn er in ihre Shorts blickte, sah er nie et-
    was, das dem komplizierten Arrangement der Zeichnung
    auf der Wand des Geräteschuppens ähnelte. In der ruhigen
    Stunde, wenn die Schatten länger wurden und die Auf-
    sichtsperson und die anderen Kinder nach Hause gegangen
    waren und die Geräte – die Hockey-Stöcke und Pingpong-
    schläger und Halmabretter – wieder eingeschlossen waren,
    experimentierte Owen am Klettergerüst, ließ sich an den
    Armen und geknickten Knien herabhängen und wollte sich
    dazu bringen, die Hände loszulassen. Aber er schaffte es
    nie. Falls er fiel und sich das Genick brach, würde er die
    ganze Nacht so daliegen, Dunkelheit und Morgendunst
    würden ihn bedecken, und erst am nächsten Tag würde
    man ihn finden, wenn um neun Uhr die Aufsichtsperson,
    die herrische, pedantische Miss Mull, kam, die Flagge hiss-
    te und mit den versammelten Kindern die Pledge of Alle-
    giance sprach.
    Ginger war von Satelliten umgeben, obwohl die Mäd-
    chen um sie herum sich selbst vielleicht gar nicht so sahen.
    Jedes der Mädchen hielt sich wahrscheinlich, obwohl das
    schwer zu glauben war, selbst für den Mittelpunkt des Uni-
    versums, so wie Owen auch. Es gab eine Menge Barbaras –
    Barbara Emerich, Barbara Jane Gross, Barbara Dolinski –,
    dazu Alice Stottlemeyer und Georgene King und Carolyn
    McManus und Grace Bickta, die alle in Owens Straße oder
    in den Straßen darüber wohnten, sich auf den Gehwegen
    einfanden und gemeinsam zur Grundschule und wieder
    nach Hause gingen. Alice Stottlemeyer, kleiner als die an-
    deren und, wie Owen, mit einer Brille auf der Nase, war die
    Erste, die Owen mit einer geheimen Bedeutung küsste,

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    eine Art Drücken mit dem Mund, fest, aber weich, als sie
    bei irgendeiner Geburtstagsfeier, nicht Owens, Flaschen-
    drehen spielten. Seine eigenen Geburtstagsfeste waren,
    wenn seine Mutter eines ausrichtete, normalerweise eine
    Katastrophe, sodass er weinend nach oben in sein Zimmer
    lief, weil seine Gäste mehr Spaß hatten als er, das Geburts-
    tagskind, das nicht genau die Geschenke bekommen hatte,
    die es sich erhofft hatte. Seine Mutter wollte das Flaschen-
    drehen nie erlauben. Ihre Brillen klickten aneinander, sei-
    ne und die von Alice, bei dem kleinen Kuss, während die
    anderen Kinder juchzten und kreischten und plötzlich ver-
    stummten, als sie sahen, dass Owen und Alice sich ernst-
    haft küssten, und alles in einer Sekunde. Und schon drehte
    sich die Flasche weiter, in der Mitte des Kreises, den sie
    bildeten, auf dem Linoleumfußboden oder dem gestriche-
    nen Betonfußboden eines Kellers, in dem sie feierten und
    der zu einem Hobbyraum oder Partykeller umgewandelt
    worden war.
    Das war einer der vielen sozialen Unterschiede, die sich
    kreuz und quer durch Willow zogen – der Unterschied zwi-
    schen Leuten, die in Freizeiträume umgewandelte Keller
    hatten, mit Wandverkleidung und Teppichen auf dem Fuß-
    boden und bequemen Sesseln, und denen, die wie Owens
    Familie, die Rausch-Mackenzies, noch Keller mit einer
    düsteren Kiste schmutziger Kohlen und spinnwebenüber-
    zogenen Regalen voller Vorräte in Einmachgläsern hatten,
    und eine mit Farbe gesprenkelte alte Waschmaschine in der
    Form eines Bottichs, an dem eine Mangel aus Hartgummi
    befestigt war. Die feuchte Wäsche schob sich zwischen den
    zwei Zylindern aus weißem Gummi hervor wie riesige, ver-
    schrumpelte Zungen und fiel langsam in den geflochtenen
    Wäschekorb. Als Owen noch jünger war, noch bevor Alice
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    Stottlemeyer ihn geküsst hatte, als er noch nicht neidisch
    war auf Familien mit bequemen Sesseln und Dartboards
    und auf
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