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Landkarten des Lebens

Landkarten des Lebens

Titel: Landkarten des Lebens
Autoren: Rainer Gundula u Waelde Gause
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viel bedeuten, zu denen ich aber wenig Kontakt habe. Die Beziehungen zu ihnen hängen in der Luft, sie sind nicht abgeschlossen, aber auch nicht mehr mit Leben gefüllt, und das tut mir weh. Ich nehme mir in diesem Moment vor, das kommende Jahr, mein 50. Lebensjahr, auch damit zu verbringen, diese ungeklärten Beziehungen ins Reine zu bringen. In den kommenden Monaten möchte ich die Fäden wieder aufnehmen oder diese Beziehungen zu einem guten Ende führen.
    Am folgenden Morgen bringe ich die Briefe, die ich an meine Freunde geschrieben habe, zur Post. Und am nächsten Tag beginnt mein 50. Lebensjahr. Ich will dieses Jahr dazu nutzen, ganz bewusst innezuhalten, mein Leben anzuschauen und darüber nachzudenken. Ich möchte Dinge anpacken, die ich schon lange vor mir hergeschoben habe. Die Inspiration dafür, so an dieses 50. Lebensjahr heranzugehen, habe ich aus der Bibel. Dort ist die Rede von einem Jubeljahr, das immer nach 7 x 7 Sabbat jahren gefeiert wird. In diesem 50. Jahr werden Schulden erlassen, Sklaven befreit, gekaufte Felder zurückgegeben und soziale Ungerechtigkeiten ausgeglichen. Die Bezeichnung „Jubeljahr“ geht auf das hebräische Wort jôbel für Widderhorn zurück, denn mit dem Blasen dieses Horns wurde ein Jubeljahr eingeleitet. Luther nannte in seiner Bibelübersetzung das Jubeljahr dann „Halljahr“ und bezieht sich mit diesem Wort auf den Hall der Posaunen. Im 3. Buch Mose, Kapitel 25, kann man es nachlesen.
    Um herauszufinden, welche Dinge ich in meinem persönlichen Halljahr anpacken will, habe ich schon vor Wochen eine Landkarte meines Lebens gezeichnet. Auf ihr sind die Orte eingetragen, die für mich eine Rolle spielen, und die Wege, die ich immer wieder zurücklege – im tatsächlichen wie im übertragenen Sinn. Die Topografie dieser Karte ist vielfältig, mit Höhen und Tiefen. Diese Lebenslandkarte hat aber auch eine Legende – sie ist die Quintessenz dieser Karte, die Zusammenfassung, denn sie enthält das Motto meines Lebens. Mit dieser Landkarte in der Hand kann ich nun starten und die Dinge angehen, die mir wichtig sind. Ich werde Orte aus meiner Vergangenheit besuchen, werde meinen Frieden mit Niederlagen, mit schweren Zeiten, mit Menschen machen, werde noch einmal trauern, mich freuen und Wege gehen, die mir für immer versperrt schienen. Ich bin sehr gespannt auf das, was mir begegnen und widerfahren wird!
    Rainer Wälde



Rainer Wälde
Orte: Ich finde die Säulen meiner Identität

    Wenn wir jemanden kennenlernen, der aus dem gleichen Ort stammt wie wir oder im selben Ort aufgewachsen ist – dann bekommen wir leuchtende Augen und fühlen eine gewisse Verbundenheit mit unserem Gegenüber. Wir teilen dieselben Erfahrungen und Prägungen mit ihm – und genau das ist es, was Lebensorte so wichtig macht. An ihnen lassen wir uns nieder, schlagen wir Wurzeln. Zu ihnen entwickeln wir Zugehörigkeit und Nähe – und das ganz besonders zu jenen Orten, an denen wir Kinder waren. Das ist bei mir nicht anders.
    Ich komme aus Freudenstadt im Schwarzwald. Es ist somit der erste Ort, den ich auf der Landkarte meines Lebens eingezeichnet habe. Und nun, einige Wochen nach meinem 49. Geburtstag, stehe ich auf dem großen quadratischen Freudenstädter Marktplatz mit seinen schönen Arkadenhäusern und friere. Obwohl es Mai ist, herrschen sehr kühle Temperaturen. Ich war schon jahrelang nicht mehr hier – und staune: Das etwas verschlafene Kurstädtchen hat sich zu einem deutlich moderneren Tourismusort gewandelt. Es gibt eine Fußgängerzone, Bistros und nette Kneipen, sogar eine Tiefgarage für die Autos der Besucher. Aus dem alten Schuhmacherladen ist eine moderne Bar geworden und meine Lieblingsbuchhandlung ist einem Telekom-Shop gewichen. Es sieht gar nicht mehr so vertraut und heimelig aus, wie ich das von meinen früheren Besuchen kenne. Ich bin deswegen etwas irritiert, spüre aber gleichzeitig den Reiz des Neuen, den mir diese Begegnung mit meiner alten Heimatstadt bietet.
    Am anderen Ende des Marktplatzes steht das Postamt. Als ich es betrachte, stürmen tausend Bilder auf mich ein. Während des Zweiten Weltkriegs war das Postamt zerstört worden und mein Großvater hat es in den Jahren danach wieder aufgebaut – denn er war der Postinspektor. Auch meine Mutter hat dort gearbeitet, als „Fräulein vom Amt“. Zuerst in einer Ruine ohne Dach über dem Kopf und ohne sanitäre Einrichtungen, später dann in dem wiederhergestellten Gebäude. Es ist untrennbar mit der Geschichte
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