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Landkarten des Lebens

Landkarten des Lebens

Titel: Landkarten des Lebens
Autoren: Rainer Gundula u Waelde Gause
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als Kinder unsere Prägung erfahren haben. Genau aus diesem Grund habe ich mir auch zwei Tage Zeit genommen, um in meinem persönlichen Halljahr an die Orte meiner Kinder- und Jugendzeit zu reisen und meine Erinnerungen wieder lebendig werden zu lassen. Ich will mir anschauen, was da alles an Emotionen auf mich einströmt und wie es mir dabei geht. Deswegen ist das Ausfüllen der Lebenslandkarte auch nur der erste Schritt bei der Suche nach dem Lebenstraum. Der zweite und weitaus wichtigere Schritt ist es, diese Orte auch aufzusuchen, sich ihnen auszusetzen und damit auch dem, was sie in uns hervorrufen.
    Untrennbar verbunden mit den Orten sind natürlich die Menschen, mit denen ich dort gelebt habe. Als ich um das Haus meiner Großeltern herumlaufe, überlege ich, wie sie mich geprägt haben und was sie mir heute bedeuten. Da ist zum Beispiel mein Großvater: Als Postinspektor war er ein echter deutscher Beamter – und auf diesen Status war er sehr stolz. Ein cleveres Schlitzohr war er allerdings auch. Für seine Familie und seine Freunde holte er in jeglicher Hinsicht immer das Optimale heraus. In seiner Freizeit und auch später als Rentner arbeitete er oft als Bauleiter. Er kannte alle Handwerker im Umkreis, wusste, was jeder auf dem Kasten hatte, und er verhandelte mit ihnen so, dass für seinen Auftraggeber das bestmögliche Ergebnis herauskam. Sein schwäbisches Ehrgefühl war ihm dabei ebenso wichtig wie die Verpflichtung zur Qualität. Er passte auf, dass niemand aufs Kreuz gelegt wurde und dass alle Beteiligten ordentliche Arbeit ablieferten. Er war ein wirklich pfiffiger Unternehmer. Ich spüre, dass mein eigenes Unternehmertum auf diesen Wurzeln beruht und fühle eine tiefe Dankbarkeit gegenüber meinem Großvater.
    Ich denke aber nicht nur an meine Großeltern, sondern auch an meinen Bruder. Er ist drei Jahre jünger als ich. Bis zum Tod unserer Mutter hatten wir ein unproblematisches Verhältnis – auch wenn ich meine Rolle als Älterer manchmal zum Anlass nahm, ihn zu bevormunden. Das tat ich aber nicht immer ohne Grund, denn schließlich war es mir häufig als Aufgabe übertragen worden, auf ihn aufzupassen. Als unsere Mutter gestorben war und mein Vater sich eingestehen musste, dass er es nicht schaffen würde, sich um seine Arbeit und um uns zu kümmern, wurden wir getrennt – ich wohnte fortan bei meinen Großeltern, mein Bruder kam zu unserer Tante und ihrem Mann. Die beiden waren kinderlos und zogen meinen Bruder auf, als wäre er ihr eigenes Kind. Sie verwöhnten ihn sehr. Weil wir so ungleich behandelt wurden, gab es auf einmal Neid und Missgunst zwischen uns; zumindest in meiner Wahrnehmung. Es entstand eine starke Konkurrenz, die unser Verhältnis zueinander noch heute prägt – so scheint es mir. Ich habe den Eindruck, dass wir immer noch nicht unbefangen und offen über berufliche Erfolge und Misserfolge miteinander sprechen können. Bei diesen Themen macht sich stets eine große Wortlosigkeit zwischen uns breit.
    Einige Wochen vor meinem Besuch in Freudenstadt hatte ich meinem Bruder einen Brief geschrieben und mir darin von ihm gewünscht, dass wir erneut an unser gutes Verhältnis aus unseren frühen Kindheitstagen anknüpfen. Ich bin gespannt, wie sich unsere Beziehung in den nächsten Jahren entwickeln wird. Geschwister sind nach den Eltern die Menschen, mit denen man am engsten verwandt ist. Und im Idealfall sind es auch die Menschen, mit denen wir unser ganzes Leben teilen, viel mehr noch als mit unseren Eltern oder unseren Lebenspartnern. Wir wachsen zusammen mit ihnen auf, erhalten dieselbe Prägung, haben denselben Hintergrund, gehen meist in dieselbe Schule, verstehen einander oft blind. Aber auch das gehört zu den Erfahrungen meines persönlichen Halljahres: Nicht alle Beziehungen zu Menschen, die mir wichtig sind, lassen sich so klären, wie ich mir das vorgestellt habe.
    Hier, an diesem Ort, liegen aber auch die Wurzeln meines Glaubens. Meine Mutter war eine sehr gläubige Frau, die diesen Glauben wiederum von ihren Eltern mit auf den Lebensweg bekommen hat. Mein Vater dagegen – auch er war nominell evangelisch wie meine Mutter – über viele Jahre ein überzeugter Atheist. Daran ließ er auch nie einen Zweifel und alle respektierten das. Er ging nur zu Anlässen wie Hochzeiten oder Taufen in die Kirche. Meiner Mutter war es sehr wichtig, dass mein Bruder und ich christlich erzogen wurden. Unsere Großmutter unterstützte sie darin. Sie betete regelmäßig für uns.
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