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Laessliche Todsuenden

Laessliche Todsuenden

Titel: Laessliche Todsuenden
Autoren: Eva Menasse
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einzige Kassette lag. Und das war tatsächlich das Mutterband zu dem obersteirischen Wahlkampf-Auftritt des alten Kreisky, das ganze, ungeschnittene Material. Die Vorfälle am Ende seiner Rede waren gut zu sehen und zu hören, denn der Kameramann war vorsichtig näher gegangen. Er filmte zum Hitlergruß gereckte Arme, »Juden raus«-Rufe, Gelächter, mitten drin der Sheriff in seiner ganzen siebzehnjährigen Pracht, umgeben von seiner Gefolgschaft, der die Lust an der totalen Grenzüberschreitung grell in den hübschen, jungen Gesichtern stand.
    In den folgenden Tagen, als diese Bilder ihr von überall entgegensprangen, sann Nora darüber nach, wie viele solcher Schätze sich wohl in den Archiven der Welt befanden. Sachen, die es gar nicht geben durfte, aber dennoch gab. Der Zufall des Überlebens von Dingen. Anarchische Einsprengsel in Archiven, die sich doch als Gegenentwurf zur Zufälligkeit verstanden. Wäre Nora Zeichnerin von Trickfilmen geworden, was lange ihr Wunsch gewesen war, hätte sie Kindern die Unzuverlässigkeit von Geschichte auch so nahebringen wollen: Eine geisterhafte Familie aus der Antike wallt aus dem Hades herauf ins Archäologische Museum. Von den lebenden Besuchern unbemerkt, bleibt sie vor einer Vitrine mit einer mühselig zusammengesetzten Vase stehen. »Was, sie zeigen hier ausgerechnet unser scheußlichstes Stück?«, ruft die Mutter empört, »sonst hat man nichts mehr gefunden?«
    Nora fragte sich, wie alt Krischanek eigentlich war. Sie hielt zwar für undenkbar, dass er dieses Band gekannt hatte. Doch an die »Pöbeleien« hatte er sich erinnert. Aber das war jetzt alles egal. Sie hatte das Band gefunden, jemand oder ein Zufall hatte es sie finden lassen. Sie hatte sich den Dank von Josef Tolomei verdient, mindestens, vielleicht sogar seine Bewunderung.
    Doch Tolomei war nicht zu erreichen. Sie bat seinen Mitarbeiter, ihm auszurichten, dass sie das Gewünschte gefunden habe, und hoffte, dass sie nicht zu aufgeregt klang. »Können Sie das Material mit dem Taxi schicken?«, fragte der Mann, der nicht erkennen ließ, ob er wusste, worum es ging. Nora zögerte, dann lehnte sie ab.
    Er meldete sich erst am Abend. Nora saß kerzengerade zu Hause am Küchentisch und berichtete, was auf dem Band zu sehen war. Während sie sprach, sah sie sich schon aus dem Haus gehen, in Richtung Marietta-Bar, die DVD, die sie gezogen hatte, in einem Kuvert in der Handtasche. Nach der langen Suche fühlte sie sich ausgelassen, wie seine Komplizin, sie wollte mit Tolomei Whisky trinken und hören, was nun aus alldem werden würde. Doch als sie fertig war, wies er sie an, die DVD mit einem Botendienst an seine Privatadresse zu schicken. »Sind Sie sicher?«, fragte Nora, er sagte »wie bitte?«, sie verbesserte sich, »ich meine, ist das sicher?«, da lachte er sie freundlich aus, ein unerwartet liebevoller Ton wie damals, als sie ihm leidgetan hatte. Er bat sie, den Boten gleich zu bezahlen und die Rechnung an die Parteizentrale zu schicken. Er bedankte sich noch mit zwei, drei Sätzen, doch für Nora hörte es sich angestrengt an.
    In den folgenden Tagen vergrub sie sich im Schneideraum. Wenn sie abends zu müde war, um weiterzuschneiden, blieb sie dennoch sitzen und bereitete den nächsten Tag vor.
    Zu Hause hörte sie sich Pauls Tiraden fast teilnahmslos an. Es hatte erhebliche Aufregung gegeben, vor allem im Ausland. Ein gut verständliches »Juden raus«, und sei es fünfundzwanzig Jahre alt, das war das entscheidende Bisschen mehr als sonst. Die Grünen hatten eine parlamentarische Anfrage eingebracht. Es kursierten Unterschriftenlisten, die forderten, die Immunität des Sheriffs aufzuheben und eine Untersuchung einzuleiten und die überdies eine »neue politische Kultur« verlangten. Der obersteirische Flecken Extal wehrte sich dagegen, als Nazidorf gebrandmarkt zu werden, schickte Faksimiles von Kreiskys nichtssagendem Gästebucheintrag an die Medien und bewarb seine einzigartigen Naturschönheiten auch in deutschen Zeitungen. Ein italienisches Fernsehteam wurde von einem Bauern mit einer Mistgabel bedroht. Nachdem sich der Extaler Bürgermeister offiziell bei den Journalisten entschuldigt hatte, erklärte er, dass der betreffende Mann schon seit Jahren verhaltensauffällig sei, die Extaler sich aber selbstlos um ihn kümmerten. Das spräche doch für sie.
    Für all das, dachte Nora, hätte man das alte Band gar nicht gebraucht. Die Politische-Kultur-Petition unterschrieb sie halbautomatisch, sie
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