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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind
Autoren: Ingrid Noll
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herumzulaufen.«
    [36] Solche Worte verletzen mich. Mein Wert wird nur nach der Tauglichkeit auf dem Heiratsmarkt bemessen. Aber natürlich ist auch etwas Wahres an ihrer Kritik. Auf unserem Gymnasium ziehen sich fast alle Kolleginnen modisch an, ändern gelegentlich die Frisur oder färben sich die Haare, greifen in der Pause auch ohne Zögern nach ihrem Schminktäschchen. Mich kann man von hinten kaum von einem dreizehnjährigen Jungen in Cargohosen und grauer Kapuzenjacke unterscheiden. Mama meint es im Grunde ja gut mit mir, aber davon wird es auch nicht besser.
    Als sie neulich wieder mal eine taktlose Andeutung machte, fuhr ich sie an: »Und warum habt ihr selber nicht ein Dutzend Kinder in die Welt gesetzt? Wenn ich noch Geschwister hätte, dann könntest du dich längst über ein Enkelkind freuen!«
    Das war ein bisschen ungerecht von mir, denn meine Mutter hatte mehrere Fehlgeburten.
    Während ich gerade traurig ein Sudoku ausfülle, klingelt das Telefon. Eine belegte Stimme meldet sich: »Hier ist Julian Heller. Ich wollte…« Julian macht sich Sorgen um sein edles Küchenmesser. Nach einigem Gestotter bittet er mich darum, seiner Großmutter nichts zu verraten.
    »Julian, du weißt genau, dass das Mitbringen von Waffen in unserer Schule streng verboten ist. Auch [37] Messer gehören nun mal in diese Kategorie. Deines ist außerdem so scharf, dass ich mich daran geschnitten habe.«
    Ich meine, ein unterdrücktes Glucksen zu hören. »Bitte, Frau Reinold, seien Sie doch nicht so streng! Sie kennen mich doch, ich wollte bestimmt keinen Kumpel abstechen!«
    »Eigentlich müsste ich die Sache dem Direktor melden. Und wenn es sich einmal herumspricht, dass ich Gnade vor Recht ergehen lasse, dann…«
    Ich weiß nicht mehr weiter, Julian fleht mich unermüdlich mit seiner Altweiberstimme an.
    Schließlich sage ich zermürbt: »Na gut, du kannst morgen zu mir nach Hause kommen und dein Messer abholen. Aber wenn ich dich jemals wieder erwischen sollte…«
    Das war ein Fehler, sage ich mir, kaum dass das Gespräch zu Ende ist.
    Der nächste Morgen fängt gut an. Mit dem Rücken zur Klasse stehe ich vor der Tafel und höre, wie die Mädchen mit dem Gackern gar nicht mehr aufhören können. Wütend drehe ich mich um und stampfe mit dem Fuß auf, worauf sich die gesamte Bande erst recht nicht beruhigen kann.
    Dann sehe auch ich, dass ich zwei verschiedene Schuhe anhabe. Die uralten roten Mokassins trage [38] ich nur zu Hause, die blauen Ballerinas sind meine Sommerschuhe. Verzweifelt gehe ich in die Offensive: »Ihr seid wohl völlig hinterm Mond, in London ist das schon seit Monaten der letzte Schrei!«
    Sie glauben mir zwar nicht, aber allmählich glätten sich die Wogen. Meine eigene Zerstreutheit geht mir inzwischen genauso auf die Nerven wie manche Schüler: Noch bevor es am Ende der Stunde klingelt, packen sie in aller Gemütsruhe ihre Sachen zusammen, was ich für eine grobe Unhöflichkeit halte und schon oft moniert habe. Nina beißt sogar noch während des Unterrichts völlig unverfroren in ihr Butterbrot. Anscheinend gehen meine Predigten zum einen Ohr rein, zum anderen wieder heraus. Oder wie meine Mutter sagen würde: Grad so, als hätt ich dem Ochs ins Horn gepetzt!
    Fast habe ich es geahnt, dass sie heute anruft. Ausgerechnet immer dann, wenn ich nach fünf Unterrichtsstunden erschöpft nach Hause komme.
    »Anja«, sagt meine Mutter, »ich war gerade beim Frisör und habe in einer Frauenzeitschrift lauter gute Tipps gelesen, wie man einen netten Mann findet. Auf jeden Fall muss man raus aus seinen vier Wänden! Vielleicht einen Hund anschaffen, beim Gassigehen kommt man schnell ins Gespräch mit anderen Leuten. Und die Angebote der [39] Volkshochschule sind auch nicht verkehrt, am besten so etwas wie digitale Fotografie. Tanzkurse für Alleinstehende werden empfohlen oder öfter mal der Besuch eines Plattenladens. Dort hängen einsame Männer angeblich oft herum…«
    »Außerdem gibt es im Internet spezielle Foren für Singles«, sage ich müde. »Die hast du vergessen.« Ich lege auf. Je länger ich über ihre Vorschläge nachdenke, desto klarer wird mir: Ein gemeinsamer Urlaub mit meiner Mutter hat keinen Sinn, ich werde es ihr ausreden müssen.
    Um fünf erwarte ich Julian, es klingelt schon ein paar Minuten früher. Damit er gar nicht erst auf die Idee kommt, meine Wohnung zu betreten, habe ich das Messer mit Pappe und Klebestreifen umwickelt, um es ihm ohne langes Palaver an der Tür
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