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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind
Autoren: Ingrid Noll
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dass man nicht aus der Übung kommen darf, selbst wenn man eine Fremdsprache gut beherrscht. Ich werde alte Freunde besuchen.«
    »Wo?«
    »Entweder in Glasgow oder eher noch in Draguignan.«
    »Kenn ich, eine nette Kleinstadt in Südfrankreich, wir waren früher auch mal dort«, sage ich leise. Wo wir schon beide solo sind, könnte sie ja anstandshalber fragen, ob ich nicht lieber mit ihr statt mit meiner Mutter verreisen will.
    Die Wohnung, die mir Manuel im Haus seines Vaters angeboten hat, erweist sich als ein Glücksfall. Die ruhige Scheffelstraße liegt am äußersten Rand des Zentrums; ich kann die Schule und alle Geschäfte mühelos mit dem Fahrrad erreichen. Vier Zimmer und ein großer Balkon erscheinen mir als [45] purer Luxus. Das Haus hat hohe grüne Fensterläden, stammt wohl aus den zwanziger Jahren und ist grundsolide gebaut. Manuels Vater zögert keine Minute mit der Zusage. Großzügig händigt er mir sofort die Schlüssel aus; noch vor dem Umzug soll ich mit dem Zollstock ein und aus gehen und zumindest auf dem Papier die Einrichtung planen können. Und falls ich bereits vor dem 1. September gelegentlich dort übernachten möchte, ist es ihm sogar lieb. Er selbst will mit Manuel verreisen, und ein unbewohntes Haus ist immer ein Risiko.
    Meine Mutter freut sich mit mir. Obwohl sie nicht allzu weit von hier in Bad Dürkheim wohnt, besucht sie mich nicht gern in meinem Rattenloch, wie sie sich auszudrücken pflegt. Dafür ruft sie ständig an.
    »Endlich mal eine gute Nachricht!«, findet sie und verzeiht mir sogar, dass ich nicht nach Österreich will.
    »Hast du Gernot schon informiert?«, fragt sie.
    Natürlich nicht, denn es geht ihn überhaupt nichts an, wo ich in Zukunft wohnen werde. Seit der Scheidung haben wir uns weder gesehen noch gesprochen.
    »Aber du musst doch endlich deine Möbel abholen!«, sagt meine Mutter, schon wieder ganz Vorwurf. »Schließlich stammt der Sekretär von deinem [46] Großvater, die englische Vitrine haben wir dir zur Hochzeit geschenkt, den Schreibtisch hattest du von deinem ersten selbstverdienten Geld gekauft und…«
    Ich unterbreche sie. »Soll Gernot doch glücklich damit werden. Ich mag ihn jedenfalls nicht um Audienz bitten, darauf kannst du dich verlassen!«
    »Dann werde ich es eben tun«, sagt meine Mutter und legt auf.
    Mich beschäftigt etwas anderes. Als Erstes muss ich für eine Schlafgelegenheit sorgen, doch genau das macht mir Kopfzerbrechen. Nehme ich ein bequemes Doppelbett, dann wird sich jeder künftige Besucher fragen, was es damit auf sich hat. Kaufe ich dagegen eine normale Liege, dann wird es zu eng, falls ich je wieder einen Freund haben sollte. Ein Kompromiss ist sicher nicht falsch, und ich schwanke zwischen einer Matratzenbreite von 140 oder 160 cm und einem Härtegrad von 2 oder 3. Schließlich rufe ich im Möbelhaus an und bestelle doch ein richtiges Doppelbett.
    Bei vier Zimmern kann ich mir endlich wieder einen Arbeitsraum einrichten, wo Wörterbücher, Lehrmaterial, Hefte und Ordner in Regalen untergebracht sind. Es wäre auch gar nicht so schlecht, wenn ich durch Mutters Vermittlung meinen treuen [47] alten Schreibtisch zurückbekäme. Fast hoffe ich, dass sie bald bei Gernot anruft. Wenn ich nicht so feige und trotzig, so stolz, verbittert und wütend wäre, dann würde ich es selber tun. Er wird mir mein Eigentum wohl kaum verweigern.
    Es geht schneller, als ich erwartet habe. Mutter meldet sich bereits am Abend.
    »Stell dir vor, ich habe Gernot sofort erreicht, und das ist auch gut so! Er ist nämlich ab 26. Juli im Urlaub, worüber ich mich wundere. Im Herbst oder Frühling ist doch alles billiger und nicht so überlaufen. Schließlich ist er kein Lehrer, der auf die Sommerferien angewiesen ist!«
    »Was hat er denn gesagt?«, frage ich ungeduldig.
    »Er hat mir nicht verraten, wo er Urlaub machen wird…«
    »Soll er doch hinfahren, wo der Pfeffer wächst, das interessiert mich einen feuchten Dreck! Ich will bloß wissen, ob ich meine Sachen jetzt wiederhaben kann?«
    »Er sehe da kein Problem, du hättest doch noch einen Hausschlüssel. Außerdem legt er überhaupt keinen Wert auf deinen Kram, sondern ist froh, wenn endlich tabula rasa gemacht wird. Wir können jederzeit holen, was wir wollen!«
    Meine Mutter hat sich mit ihrem Schwiegersohn [48] immer gut verstanden. Nun ist sie ganz aufgeregt, dass ihr dieser Coup perfekt gelungen ist. Außerdem ist sie neugierig, denn sie will offenbar dabei sein, wenn ich in meinem
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