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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind
Autoren: Ingrid Noll
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zurückzugeben.
    Aber draußen steht auch Manuel, womit ich nie im Leben gerechnet habe. Er wirft mir unter seinen langen Wimpern einen so rührenden Blick zu, dass ich weich werde. »Na, kommt schon rein!«, sage ich.
    Bei mir sieht es schrecklich aus. Ich lotse meine Schüler in die Küche, denn dort wirkt das Chaos am ehesten kreativ. Die beiden setzen sich ungefragt an den Tisch, wo noch die schmutzigen Becher von [40] vor drei Tagen stehen und sich die Fruchtfliegen mitsamt Nachwuchs an verfaulten Pflaumen berauschen.
    Meine menschlichen Gäste erwarten eine Standpauke. Offensichtlich ist Manuel mitgekommen, um seinem Freund beizustehen.
    »Frau Reinold«, sagt er, »Sie haben das in den falschen Hals gekriegt. Ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs ist doch nicht mit einer Knarre zu vergleichen! Julian ist ein richtig guter Koch, ein Küchenmesser gehört für ihn einfach zur Grundausstattung!«
    Ich muss ein wenig lächeln.
    Auch Julian setzt zu Erklärungen an. »Zum Frühstück habe ich Birnen fürs Müsli geschält, dabei ist mir das Messer wohl versehentlich in den Rucksack gerutscht.«
    »Ist ja schon gut«, gebe ich nach. »Hier hast du dein tolles Messer zurück. In Zukunft bleibt es aber dort, wo es hingehört. Wie geht es eigentlich deinen Eltern?«
    Seine Eltern leben als Entwicklungshelfer in irgendeinem unaussprechlichen asiatischen Ort, wo es keine internationalen Schulen gibt.
    »In den Sommerferien fliege ich hin«, sagt er, »das wird spannend! Meinen Eltern geht es prima. Neulich hatten sie sogar eine Python im Garten.«
    [41] »Python ist männlich, es heißt der Python«, belehre ich.
    Beide schauen sich kurz an und erheben sich gleichzeitig; beide haben einen leichten Flaum über der Lippe, beide wachsen mehr oder weniger ohne Mutter auf.
    An der Haustür fragt Manuel beiläufig: »Übrigens, kennen Sie jemanden, der eine Wohnung sucht?«
    »Willst du etwa eine WG gründen?«, frage ich verdutzt.
    »In unserem Haus ist etwas frei geworden«, sagt er. »Mein Vater will sich nicht gleich an einen Makler wenden, sondern erst einmal unter Bekannten herumfragen.«
    Interessiert frage ich nach Details. Alles hört sich gut an, die Lage stimmt, die Größe, der Preis. Das einzige Problem ist natürlich, dass ich keine Möbel besitze und alles neu kaufen müsste. Das wäre jedoch machbar, weil ich von meinem Vater ein paar Aktien geerbt habe.
    »Ich lasse es mir mal durch den Kopf gehen«, sage ich vorsichtig. »Vielleicht wäre das etwas für mich selbst. Aber ich müsste mir die Wohnung erst einmal ansehen, versteht sich.«
    »Wow! Das wäre cool!«, findet Manuel.
    Kaum bin ich allein, fülle ich drei Sudokus völlig [42] verkehrt aus, weil ich nicht bei der Sache bin. Ein Umzug ist mit Unruhe verbunden und setzt Initiative voraus. Traue ich mich raus aus meiner Höhle? Um einen Anfang zu machen, sammle ich das herumstehende Geschirr ein und spüle. Auf einer Untertasse klebt ein Kaugummi, der nicht von mir stammt. Man sollte Schüler eben doch nicht in die Wohnung lassen, denke ich noch vor dem Einschlafen.

[43] 4
    Erst kurz vor den großen Ferien fragt mich Birgit: »Was hast du eigentlich für Urlaubspläne?«
    Nach sekundenlangem Zögern lüge ich ihr etwas vor; das Wellnesshotel in Österreich und die Einladung meiner Mutter müssen herhalten. In Wirklichkeit habe ich den großartigen Plan, mein verlottertes Leben umzukrempeln. Ich werde endlich aus meiner scheußlichen Wohnung ausziehen, Möbel kaufen, mich ganz nach meinem Geschmack einrichten. Ein Anfang ist schon gemacht: Ich habe mir erstens keine Sudokus mehr geholt und mich zweitens in einem Mannheimer Einrichtungshaus umgeschaut. Teilweise gibt es lange Lieferfristen, und zwar ausgerechnet bei jenen Stücken, die mir besonders gefallen.
    Um mich nicht versehentlich zu verraten, frage ich zurück: »Und du? Warum magst du Steffen eigentlich nicht nach Rostock begleiten?«
    »Woher weißt du das?«, fragt sie erstaunt, und ich berichte von unserer Begegnung auf dem Marktplatz.
    [44] Sie runzelt die Stirn. »Wieso hat er mir nichts davon erzählt? War er allein?«, will sie wissen.
    Auf meine Antwort geht sie nicht weiter ein, sondern jammert unverzüglich los: »So eine Schnapsidee! Ausgerechnet Rostock! Steffen behauptet zwar, es sei eine wunderschöne Stadt und man könne herrlich in der Ostsee planschen, aber mich bringen keine zehn Pferde dorthin. Mich zieht es entweder nach Schottland oder nach Frankreich. Du weißt ja selbst,
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