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Kristall der Macht

Kristall der Macht

Titel: Kristall der Macht
Autoren: Monika Felten
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sein würde, wenn das Ende kam. Würde es schnell gehen? Würde es qualvoll sein? Die Rakschun waren für ihre Grausamkeit bekannt. Als Prinz konnte er keine Barmherzigkeit erwarten. Sie würden ihn foltern und ihren Forderungen an den König mit dem Übersenden einzelner Teile seines Körpers Nachdruck verleihen. Ein Finger, ein Ohr, ein Auge … Stück für Stück würden sie ihn nach Baha-Uddin zurückschicken. So wie sie es mit seinem Bruder Marnek getan hatten. Und wie bei Marnek würde sein Vater auch diesmal nicht auf die Forderungen eingehen und am Ende eher den entsetzlich verstümmelten Kopf seines Sohnes in Empfang nehmen, als den Rakschun auch nur einen Fingerbreit entgegenzukommen.
    Prinz Kavan betrachtete seine Hände und spürte, wie sich Übelkeit in seinem Magen ausbreitete. Er wusste, was sein Vater von ihm erwartete. Die Worte, die Azenor vor seinem Aufbruch zur Festung freundlich, aber bestimmt gewählt hatte, waren eindeutig gewesen. »Was auch geschieht«, hatte er mit strengem Blick gesagt und ihm einen schlanken Dolch in die Hand gedrückt, »du darfst den Barbaren nicht in die Hände fallen. Denk an deinen Bruder. So etwas darf nicht noch einmal vorkommen.« Dann hatte er Kavans Finger fest um den Dolch geschlossen, genickt und hinzugefügt: »Trage diesen Dolch stets verborgen bei dir. Du weißt, was du zu tun hast. Ich verlasse mich auf dich.«
    Kavans Hand zitterte, als er unter sein Gewand griff, um den Dolch hervorzuholen. Er wusste, dass dies der Augenblick war, von dem sein Vater gesprochen hatte, wusste, was er tun musste. Jetzt. Sofort. Solange noch Zeit dazu war … Kavan zog die Luft scharf durch die Zähne und presste die Lippen fest aufeinander. Das Metall des Dolches war warm.
    Als ob er lebt …
    Nur mit einer enormen Willensanstrengung gelang es ihm, die Waffe unter dem Gewand hervorzuziehen. Ein Sonnenstrahl durchbrach die Rauchwolken über der Festung und ließ die Klinge aufblitzen, als wolle das Licht Kavan verspotten.
    »Stirb, Nichtswürdiger«, schien es zu höhnen. »Du hast versagt. Niemand wird dir nachtrauern. Das Leben wird ohne dich weitergehen …« Dann war das Licht fort. Der Dolch lag grau und stumpf in seiner Hand.
    »Du weißt, was du zu tun hast.« Wieder glaubte Kavan die Stimme seines Vaters zu hören. Und wieder zögerte er. Fast war ihm, als wären die Finger nicht die seinen, die sich da um den Dolch schlossen und die Spitze auf sein Herz richteten …
    Kavan hielt den Atem an.
    »Tu es!« Die Stimme seines Vaters dröhnte in seinem Kopf. Drängend, fordernd, befehlend …
    Kavan umklammerte den Dolch so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er schwitzte und zitterte, während der Atem seinen Lungen keuchend entwich. Sein ganzes Leben lang hatte er getan, was sein Vater von ihm verlangt hatte. Nie hatte er aufbegehrt, nie widersprochen.
    »Tu es jetzt!« Im Geiste sah Kavan König Azenor vor sich. Schlohweißes Haar umrahmte das hagere Gesicht, dessen stechend blaue Augen ihn in der von ihm so gefürchteten Strenge fixierten.
    Kavan wand sich innerlich unter dem Blick wie ein geprügelter Hund, so wie er es immer tat, wenn er seinem Vater gegenüberstand und dieser ihn seine Macht spüren ließ. Die Furcht vor Azenors Zorn war allgegenwärtig. Selbst hier und jetzt, im Angesicht des Todes, auf dem letzten verlorenen Außenposten Baha-Uddins.
    »Bring es zu Ende und stirb wie ein Mann!«
    »Ja, Vater.« Kavan schloss die Augen, nahm all seinen verbliebenen Mut zusammen, krallte die Finger um den Griff des Dolches und machte sich bereit.
    Jetzt!
    Mit angehaltenem Atem wartete er auf den Schmerz, der das Eindringen der Klinge begleitete – aber nichts geschah.
    Seine Arme gehorchten ihm nicht. Obwohl sein Verstand ihm sagte, dass es keinen anderen Weg gab, dass er gehorchen musste, konnte er die Tat nicht vollbringen. Etwas, das größer war als die Angst vor seinem Vater, ja sogar größer als die Furcht vor Folter und Schmerz durch die Rakschun, hielt ihn zurück und forderte seine Muskeln zum Ungehorsam auf. Es war dieselbe Kraft, die Helden in der Not über sich hinauswachsen lässt und Menschen dazu befähigt, das Unmögliche zu vollbringen. Diese Kraft versagte ihm nun einen ehrenhaften Tod.
    Weil er Angst hatte.
    Weil er ein Feigling war.
    Weil er leben wollte.
    »Mein Prinz!« Eine Hand legte sich auf seine Schulter und riss -Kavan aus seinen Gedanken. Erschrocken ließ er den Dolch sinken und versuchte, ihn unauffällig unter seinem
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