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Kreuzigers Tod

Kreuzigers Tod

Titel: Kreuzigers Tod
Autoren: Peter Oberdorfer
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mir wie Schuppen von den Augen, ich war eine Außenseiterin geworden, ohne dass ich es gemerkt hatte. Die meisten Mädchen meines Alters waren schon verheiratet oder hatten einen Freund und nahmen mich nicht ernst, ja lachten hinter meinem Rücken über mich. Im Zug, mit dem ich morgens in die Stadt zur Arbeit fuhr, saß ich meistens bei den Schülerinnen und schaute ihre Hausaufgaben durch. Im Postamt ver-steckte ich mich in der Arbeit. Und wenn es nichts zu tun gab, tat ich so, als wäre ich beschäftigt, damit man mich in Ruhe ließ. Natürlich hatte es auch da Männer gegeben, die mir einen gewissen Blick zuwarfen, aber das war eigentlich nur am Anfang so gewesen. Mit der Zeit hatte sich das aufgehört, als wäre ich eben nur scheinbar eine Frau, in Wahrheit aber etwas anderes, das sie lieber nicht anrührten. Während ich mich früher in dem, was ich war und wie ich lebte, sicher gefühlt hatte, weil ich geglaubt hatte, dass es so seine Richtigkeit hätte, war seit dem kurzen Gespräch mit meiner Mutter diese Sicherheit fort. Und ich hatte ein Gefühl, wie soll ich das sagen, kennst du das, wenn es im Winter viel geschneit hat, nassen, schweren Schnee, und du willst den Schnee nicht wegschöpfen, sondern wegschieben, und je weiter du den Schnee mit der Schaufel schiebst, desto schwerer wird er, bis du einfach stecken bleibst, weil es nicht und nicht mehr weitergeht?«
    Ich schaute sie an und nickte langsam.
    »Ich wusste nicht mehr weiter und steckte fest. Da kam Franz. Es war am Vormittag, die Abteilung, in der ich arbeitete, war leer, weil alle Kaffeepause machten. Ich hörte sie in einem Nebenzimmer reden und lachen, Frauen und Männer, Männer und Frauen. Immer ging das so, es wurde gescherzt und gelacht. Ich war schon ein paarmal hineingegangen und hatte den jungen Frauen zugeschaut, wie sie rauchten und beim Ausstoßen des Rauchs den Kopf zurücklegten und aus dem Augenwinkel jemanden anschauten. Aber es war mir schwergefallen, zu verstehen, was dort vorging, und den vielen gleichzeitig geführten Gesprächen zu folgen, die alle keinen wirklichen Gegenstand hatten, und so ging ichlieber nicht hin und saß an meinem Tisch mit den Briefen, die zu sortieren waren. Und an so einem Tag kam Franz daher und brachte Briefe. Es war normalerweise nicht seine Aufgabe, Briefe im Haus zu verteilen, er tat das nur aushilfsweise, weil der zuständige Mann auf Urlaub gegangen war. Er wusste nicht, wohin mit den Briefen, und so kam er zu mir und wir lernten uns kennen. Es war sonderbar, ich hatte keine Scheu vor ihm. Er sprach so langsam, leise und zaghaft, dass ich sofort im Gespräch die Führung übernahm und ihm allerhand Fragen stellte, um ihn aufzumuntern. Ich kannte ihn schon vom Sehen, man hat ja alle, die in so einem Haus arbeiten, schon irgendwann einmal gesehen und vielleicht sogar flüchtig und tonlos gegrüßt und sich im Grunde genommen schon über jeden eine Meinung gebildet. Von der flüchtigsten Begegnung her weiß man schon alles, und was später kommt, ist nur eine langwierige Bestätigung des ersten Eindrucks. Wir redeten lange, so lange, bis die Kaffeepause vorbei war und die anderen zurückkamen. Er ging dann, ohne sich zu verabschieden, kam auch am nächsten Tag nicht wieder und auch nicht am übernächsten, aber am Tag darauf, und jetzt ließ er sich gar nicht lange fragen, sondern redete von sich aus. Ich kann mich an nichts erinnern von dem, was er gesagt hat. Ich wusste auch nicht, ob ich mich in ihn verliebt hatte, aber ich wusste, dass ich mich freute, wenn er kam, und dass ich gern mit ihm redete und dass es anders war, mit ihm zu reden als mit den anderen. Und schon bald fragte ich mich nicht mehr, ob ich in ihn verliebt war, sondern ging davon aus, dass ich es war. Wenn das nicht das Verliebtsein war, was konnte es sonst sein? Auch die anderen Mädchen in der Post sag-ten, dass es das war. Dass ich mir nicht wünschen konnte, ihn zu küssen oder ihn anders als irgendwie zufällig zu berühren, das schien nur richtig zu sein, aber darüber sprach ich mit niemandem. Das kommt bestimmt später, dachte ich. Es blieb bei dieser flüchtigen Begegnung. Dabei blieb es. Wir lernten uns nie kennen. Nach ein paar Wochen wartete er eines Tages nach der Arbeit draußen vor dem Tor des Postgebäudes auf mich. Zuerst schaute er mich nur sonderbar an, als warte er auf jemand anderen, aber dann kam er doch auf mich zu und stellte sich mir regelrecht in den Weg. Ich sah, wie nervös er war, und hatte Mitleid
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