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Kreuzberg

Kreuzberg

Titel: Kreuzberg
Autoren: Oliver G. Wachlin
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sich die Dinge in Moskau entwickeln. Er hatte wenig Lust, ein
zweites Mal zu den Verlierern zu gehören.
    Zu spät
bemerkte er, dass er die Serviette, auf der ihm Cordula ihre Nummer notiert
hatte, permanent zum Schweißabwischen benutzt hatte. Sie war nur noch ein
schmuddelig feuchter, zerfaserter Fetzen Zellstoff, die Telefonnummer nicht
mehr zu entziffern.

3    DER ANRUF
ERWISCHT MICH auf dem
falschen Fuß, wie man so schön sagt. Obgleich sich mir der Sinn dieser
Redewendung nicht gleich erschließen will: Wieso Fuß? Ich liege doch. Und zwar
rücklings auf dem harten Parkett. Dunkelheit umgibt mich. Nur durch einen Spalt
der Vorhänge am Fenster sickert schwaches Straßenlicht herein und spiegelt sich
im Kronleuchter über mir. Ein hässliches Teil aus Kristall, nachgemachter
Barockkitsch aus dem Kunstgewerbeladen.
    Das Telefon
klingelt und klingelt. Es kann nicht für mich sein, denn meine Wohnung hat
Auslegeware aus Sisal, und solche schrecklichen Kronleuchter hänge ich mir auch
nicht an die Decke.
    Die Frage
ist: Wo bin ich?
    Neben mir
liegt eine geleerte Whiskyflasche auf dem Boden. Zehn Jahre alter Single Malt,
Talisker, 45,8 % Vol., so steht es auf dem Etikett. Aha. Das erklärt
zumindest, was mich niedergestreckt hat.
    Der
Abend zuvor war etwas unübersichtlich verlaufen. Zunächst hatte ich mit meinem
Kollegen Harald Hünerbein in der Dienststelle auf den Feierabend gewartet. Es
war Freitag, und wir hatten darüber diskutiert, dass der Name dieses Tages eine
einzige Lüge ist. Denn wer hat schon an einem Freitag frei? Abgesehen davon,
dass man an diesem Tag etwas früher Feierabend macht, um sich aufs Wochenende
vorzubereiten, ist er ein ganz normaler Arbeitstag. Vielleicht sollte man ihn
besser Vorfreitag nennen, denn erst der Samstag ist genau genommen ein wahrer
Freitag. Genau wie der Sonntag, wo selten mal die Sonne scheint.
    Überhaupt,
die Wochentage: Was hat der Mond mit dem Montag zu tun? Dienstag stimmt es
wieder, und am Mittwoch wird tatsächlich die Arbeitswoche geteilt. Donnerstag
dagegen ist reinster Unsinn – es sei denn, es gibt Streit mit dem Chef
oder ein Gewitter …
    Dann rief
Monika an. Sie müsse mich dringend sprechen, es sei sehr wichtig. Wir hatten
uns bei Enzo im »L’Emigrante« zum Pizzaessen verabredet, aber Moni kam nicht.
So trank ich erst ein paar Bier, später Wein. Gegen halb acht erschien sie endlich
und erklärte, Siggi sei plötzlich bei ihr aufgetaucht, na so eine Überraschung,
und habe dringend nach einer Dusche und frischen Sommersachen verlangt.
    Das
verstand ich nicht, denn eigentlich sollte Monikas Exmann doch im Knast sitzen.
Ein früherer Stasiagent, rechtskräftig verurteilt wegen diverser
Geldschiebereien in Millionenhöhe zum Nachteil der Bundesrepublik.
    Er habe
kurzfristig Freigang bekommen, erklärte Monika. Eine Maßnahme zur
Resozialisierung. Punkt sieben Uhr abends sollte er wieder zurück in Tegel
sein. Da die Kisten mit seinen Sachen auf dem Speicher auf dem Dachboden
zwischengelagert worden waren und alles andere als frisch rochen, hatte sie ihm
ein paar Sommerhemden und -hosen gewaschen. Anschließend war es so spät, dass
er nicht rechtzeitig zurück ins Gefängnis gekommen wäre, wenn er die
öffentlichen Verkehrsmittel genommen hätte.
    »Die sind
da ziemlich pingelig, wenn sich jemand beim ersten Freigang gleich verspätet«,
sagte sie, »wir wollten da nichts riskieren.« Also hatte sie Siggi mit dem
Wagen nach Tegel gebracht. Sicherheitshalber.
    Monika und
ihr Exmann: eine endlose Geschichte. Wenn man Monika will, bekommt man
Stasisiggi immer gratis dazu. Ohne den Kerl geht es nicht, selbst wenn er im
Knast sitzt. Und jetzt ist er schon Freigänger – ehrlich, man kann
wirklich nicht sagen, dass unser Staat besonders unbarmherzig mit seinen
früheren Gegnern umgeht.
    »Siggi hat
niemandem was getan!«
    Oh doch,
Moni, denk an dich und deine Tochter, hätte ich ihr widersprechen können, doch
ich ließ es bleiben. Mich interessierte mehr, was sie mit mir so Wichtiges
besprechen wollte.
    Zunächst
wich sie aus und faselte etwas von Familie und ob es nicht besser sei, wenn
wir, also sie und ich und unsere gemeinsame Tochter Melanie, zusammenziehen
würden. In eine größere Wohnung. Irgendwann im Leben sei die Zeit gekommen, wo
man seine Familienverhältnisse ordnen müsse. Das sei auch für Melanie besser.
    Na, dachte
ich, bei Melanie ist der Dampfer wohl abgefahren. Das Mädchen ist immerhin
schon siebzehn Jahre alt; spätestens
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