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Kreuzberg

Kreuzberg

Titel: Kreuzberg
Autoren: Oliver G. Wachlin
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weggesteckt hatte … Wer
einen Aktenordner durchsieht, kann nicht gleichzeitig mit der Waffe drohen –
und das war die Chance.
    Blitzschnell fuhr er herum, um den Gegner zu überwältigen. Doch sein
Wehrdienst war über fünfundzwanzig Jahre her und Boelter regelrecht
eingerostet. Noch ehe er den Angriff beenden konnte, landete er bäuchlings auf
dem harten Betonboden, dass ihm alle Knochen wehtaten, und hatte wieder den
kühlen Stahl der Waffe am Hinterkopf.
    »Wer ist Ihr Auftraggeber?«, raunte die Stimme an seinem Ohr.
    »Keene Ahnung«, japste Boelter atemlos, »det war ‘n Fahrgast. Ick
bin nur Taxifahrer, ick …«
    »Mhm«, machte die Stimme und rückte von ihm ab. »Stehen Sie auf!«
    Vorsichtig kam Boelter hoch und fühlte seine pomadisierte
Rockabilly-Frisur in sich zusammensinken. Aber er lebte noch, und das war die
Hauptsache. Mensch, det hätte schiefgehen können, durchfuhr es ihn eiskalt, als
er die Marakow in den Händen seines Gegenübers sah, det hätte verdammt noch mal
mächtig in die Hose gehen können …
    Aus den oberen Stockwerken hörte man gedämpft aufgeregtes Geschrei
und Fußgetrappel. Immer wieder rumste es, wurde irgendwas zerdeppert. Da
reagierte sich der Volkszorn ab.
    »Wissen Sie, wozu Ihr Auftraggeber die Akten braucht?«
    »Nö«, beteuerte Boelter, »keene Ahnung, ehrlich! Er hat mir
zweitausend West jeboten, wenn ick det Zeug besorge.« Er lächelte unschuldig.
»Is ja ‘n Haufen Kohle. Die wollte ick mir nich entgehen lassen, vastehnse?«
    »Klar.« Der Mann nickte und steckte die Makarow ins Holster unter
seinem pastellfarbenen Leinensakko. Sicher ein westliches Fabrikat. Dazu trug
der Mann eine 501er Levi’s sowie ein Jeanshemd, beides in Schwarz, was Boelter
zu der Überlegung veranlasste, ob er nun einem Stasimann oder einem
Bürgerrechtler gegenüberstand. Genau war das nicht auszumachen, so ein Typ
hätte sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite des runden Tisches
sitzen können. Allein aus der Makarow und der Tatsache, allzu rasch auf den
Boden gelegt worden zu sein, schloss Boelter, dass er es wohl wirklich mit
einem Mitarbeiter der Stasi-Nasi zu tun hatte.
    Der funkelte ihn durch seine randlose Brille an. »Sie haben
gedient?«
    »Ja«, Boelter strahlte. Immerhin hatte der Mann gemerkt, dass er ein
Kämpfer war. »Drei Jahre Unteroffiziersausbildung in Prora.«
    »Bei den Fallschirmjägern!« Der Stasimann machte eine anerkennende
Miene. »Gut!«
    Boelter nickte stolz. Das waren noch Zeiten gewesen! Als
Fallschirmjäger war man ein harter Kerl mit ganz besonderer Ausbildung. Nur die
Fittesten kamen nach Prora, die Sportlichsten mit den stärksten Nerven.
    Und Boelter gehörte dazu. Mit knapp zwanzig Jahren schon hatten sie
ihn in eine Propellermaschine gesetzt und ins Nirgendwo geflogen. Irgendwann in
der Nacht musste er abspringen, über unbekanntem Gebiet hinein in die
Dunkelheit. Auftrag war es, sich binnen acht Tagen zurück zur Truppe
durchzuschlagen, egal wie – man durfte sich nur nicht erwischen lassen und
musste unerkannt bleiben. Als es dämmerte, fand sich Boelter in der Nähe eines
Dorfes wieder, und als er das erste Straßenschild sah, wusste er, dass sie ihn
irgendwo über Polen abgesetzt hatten. Er stahl zwei Hühner, eine Flasche Wodka
und einen Straßenatlas und schlug sich gut sechshundert Kilometer zur deutschen
Grenze durch. Er durchschwamm die Oder, »lieh« sich einen Wagen und war nach
fünf Tagen zurück in Prora. Fünf Tage, die ihn zum Mann gemacht hatten, zu
einem Kerl, der überlebensfähig war – komme, was wolle. Boelter straffte sich
und sah sein Gegenüber an.
    »Und wat passiert jetzt mit mir?«
    »Rühren Sie sich nicht von der Stelle!« Der Stasimann sah sich
nachdenklich die Aktenordner durch. Dann klappte er den gelblichbeigen Deckel
eines Apparates der Marke SECURA auf, der vor den Regalen stand, und legte die Akten routiniert und zügig Seite
für Seite auf eine dunkle Glasplatte, die immer wieder aufblitzte. Gleichzeitig
spuckte der Apparat seitlich bedruckte Blätter aus.
    Ein Vervielfältigungsapparat, staunte Boelter, der Kerl macht sich
Abzüge von den Akten …
    »Welche Ordner brauchen Sie noch?«, erkundigte sich der Stasimann
ruhig, während er die Ordner weiterfotokopierte.
    »Wat?« Boelter verstand nicht.
    »Sie sind doch nicht nur wegen dieses einen operativen Vorgangs
hergekommen?«
    »Doch«, versicherte Boelter verwirrt, »Arndt, Jan Fridolin,
Jahrgänge 60 bis 61, det war der
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