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Kreuzberg

Kreuzberg

Titel: Kreuzberg
Autoren: Oliver G. Wachlin
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und Boelter verstand
nicht recht den Sinn darin. Die Mauer war längst auf, was sollte das alles
noch? Ziel erreicht, lasst doch Stasi Stasi sein, haben eh nix mehr zu melden.
Stattdessen: »Bringt Kalk und Steine mit!« Ja wollten die diese armen Lausch-und-Guck-Hirnis
in ihrem Bunker einmauern? Lächerlich fand Boelter das und albern. Aber so
waren wohl Revolutionen; immer wieder Demonstrationen mit irgendwelchen
Rednern, die kämpferisch Dinge fordern, über die vorher nie jemand nachgedacht
hatte. Dann stellte sich wer an die Spitze der Bewegung, und bevor dagegen
protestiert werden konnte, wurden die Guillotinen herausgeholt. Köpfe rollten –
und am Ende war alles wie vorher. Nur die Machthaber hatten gewechselt, das
nannte man dann Fortschritt.
    Boelter stoppte seine Taxe am Kotikow-Platz und ging den Rest zu
Fuß. Wenn es zur Eskalation kam, zu Straßenkämpfen oder so, sollte sein Wolga
nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Auf der Frankfurter Allee strömten die
Menschen zusammen, überall bildeten sich Grüppchen. Viele hatten Transparente
dabei, die »Stasi in die Produktion« forderten und mit »Lauscherlümmel – jetzt
geht’s euch an die Ohren!« drohten. Irgendwo forderte eine Megafonstimme »keine
Gewalt«.
    In der Rusche- und in der Normannenstraße skandierten sie schon
lautstark »Stasi raus! Stasi raus!«, und erste Bierflaschen flogen gegen den
riesigen Plattenbaukomplex des Ministeriums, das erst kürzlich von der
Modrow-Regierung in »Amt für Nationale Sicherheit« umgetauft worden war, was
nun andere Demonstranten zu »Stasi-gleich-Nasi«-Sprechchören animierte.
Plötzlich war Heini Boelter mittendrin in der Revolution, im Zentrum des
Aufstandes, eingeklemmt im Gerangel und Gedrängel. Von hinten wurde geschoben,
von vorn gedrückt – irgendwo klirrten Fensterscheiben, und die Stimme Bärbel
Bohleys – sozusagen die Mutter des friedvollen Protests – echote zwischen den
Hauswänden wider und mahnte zu Ruhe und Gewaltfreiheit. Vergebens. Einmal
aufgestachelt, wollte sich die Menge nicht beruhigen. Jetzt ging es den Stasileuten
an den Kragen, jetzt bahnte sich jahrzehntelang aufgestauter Hass Bahn. Rache
lag in der Luft.
    Willkommen im Dschungel, dachte Heini Boelter zwischen den wild
gewordenen Bürgern und fühlte sich plötzlich wie Rambo bei den Vietkong. Mit
seinen Ellbogen arbeitete er sich durchs Gedränge zum Hauptportal vor. Oder war
das der Sturm auf die Bastille? Würde am Abend die Stasiplatte noch auf ihren
Grundmauern stehen? Ja, das war wohl ein historischer Moment, und Heini Boelter
war dabei. Doch anders als die Übrigen hier mit ihrem ehrlich wütenden Protest
blieb er emotionslos wie ein Krieger, schließlich war er hier so was wie ein
Söldner im Dienste von … – ja, von wem eigentlich? CIA ? Secret Service? Mossad? Egal, zweitausend Westmark,
dafür lohnte sich der Einsatz. Vielleicht bekam er noch ein paar
Anschlussaufträge. Die Zeiten waren wild, und Heini Boelter wollte ebenso wild
sein. Vorbei war die biedere Schläfrigkeit der vergangenen Jahre, mit der Staat
und Partei das Volk eingelullt hatten. Jetzt ging es endlich mal rund. Wie er
das Leben plötzlich spürte, wie aufregend das alles war! Großartig! Das war
Rock ‘n’ Roll, was für echte Kerle, für Männer wie Heini »The Checker« Boelter: »Fight, Dance and Love!«
    Plötzlich gaben die Türen des Stasi-Hauptportals unter dem Druck der
Menge nach. In einem Sog aus Menschen wurde Boelter ins Innere des mächtigen
Plattenbaus und zwischen die Hydrokulturen aus Gummibäumen und Topfpalmen im
Foyer gespült. Wieder splitterte Glas, eine Vitrine mit Urkunden und Medaillen
»für die vorbildliche Verteidigung des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf
deutschem Boden« ging zu Bruch. Irgendwo krachte es mehrmals, so als würden
Türen eingetreten.
    »Nicht schießen«, brüllte eine Frau hysterisch, und ein anderer
rief: »Entwaffnen, die ganze Bande, aber zügig!« Nur war niemand zu sehen, der
eine Waffe trug. Nicht mal ein Messerchen wurde gezückt, und im Tumult der
Massen ging völlig unter, wer jetzt eigentlich Stasimitarbeiter war und wer das
aufgebrachte Volk.
    Links lang, dachte Heini Boelter mit zunehmender Verzweiflung, denn
er wurde, ob er nun wollte oder nicht, nach rechts gedrängt. Hilflos kämpfte er
gegen den Strom an und fand sich plötzlich in der Kantine des
Versorgungstraktes wieder. Umgehend fielen die Menschen über Krimsekt, Lachsbrötchen
und Limonenfrüchte her.
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