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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen
Autoren: Dan Simmons
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waren. Ohne die Farben hätten die Dünen ein erstarrtes Meer sein können, das an die römischen Ruinen brandete.
    »Werden Sie noch Fotoarbeiten machen, bevor Sie wieder zur Universität gehen?«
    »Hm-hmm. Die Jerusalem Post hat mich gebeten, etwas über den Verfall der großen amerikanischen Synagogen zu machen, und ich habe mir gedacht, ich fange in Philadelphia an.«
    Saul winkte den beiden Leibwächtern zu, die im Windschatten zweier Säulen standen. Einer hatte eine Zigarette angezündet, die im Halbdunkel wie ein rotes Auge glühte. »Der Fotoessay über die Araber der Arbeiterklasse in Tel Aviv, den Sie gemacht haben, war exzellent«, sagte er.
    »Nun«, sagte Natalie mit einem leichten Anflug von Trotz in der Stimme, »seien wir ehrlich. Sie werden behandelt wie Israels Nigger.«
    »Ja«, stimmte Saul zu.
    Die beiden standen mehrere Minuten an der Straße am Hügel, ohne ein Wort zu sagen, froren, und doch widerstrebte es ihnen, zu dem hellerleuchteten warmen Haus hinaufzugehen, sich noch etwas zu unterhalten und dann schlafen zu gehen. Plötzlich schlüpfte Natalie in Sauls Arme, vergrub das Gesicht an seinem Jackett und spürte seinen Bart auf den Haaren.
    »O Saul«, schluchzte sie.
    Er tätschelte sie linkisch mit der verbundenen Hand und wäre damit zufrieden gewesen, diesen Augenblick für alle Ewigkeit in der Zeit erstarren zu lassen und selbst den Kummer darin als einen Quell der Freude anzusehen. Hinter ihnen hörte er, wie der Wind den Sand sanft in seinem immerwährenden Bemühen aufwirbelte, alles zu bedecken, was Menschen geschaffen hatten und je zu schaffen hofften.
    Natalie wich ein Stück zurück, holte ein Kleenex aus der Tasche ihres Pullovers und schneuzte sich die Nase. »Verdammt«, sagte sie. »Es tut mir leid, Saul. Ich schätze, ich bin gekommen, um Shalom zu sagen, und bin einfach noch nicht bereit dafür.«
    Saul rückte die Brille zurecht. »Vergessen Sie nicht«, sagte er, »Shalom heißt nicht auf Wiedersehen. Auch nicht hallo. Es heißt einfach nur - Friede .«
    »Shalom«, sagte Natalie und kuschelte sich wieder in seine Arme, um sich vor dem kalten Nachtwind zu schützen.
    »Shalom und L’chaim«, sagte Saul, drückte die Wange an ihr Haar und sah zu, wie der Sand über die schmale Straße geweht wurde. »Auf das Leben.«

 

EPILOG
     
    21. Oktober 1988
     
    Zeit ist vergangen. Ich bin sehr glücklich hier. Ich lebe jetzt in Südfrankreich zwischen Cannes und Toulon, aber nicht, wie ich mit Freuden versichere, in der Nähe von St-Tropez.
    Ich habe mich fast vollständig von meiner Krankheit erholt und kann jetzt ohne Krücken gehen, aber ich gehe selten aus. Henri und Claude erledigen meine Einkäufe im Dorf. Gelegentlich lasse ich mich von ihnen zu meiner Pension in Italien begleiten, südlich von Pescara an der Adria, oder sogar zu dem gemieteten Landhaus in Schottland, um ihn zu beobachten, aber selbst diese Ausflüge sind immer seltener In den Hügeln hinter meinem Haus liegt eine verlassene Abtei, dorthin gehe ich oft, sitze zwischen den Steinen und wilden Blumen und denke nach. Ich denke an Zurückgezogenheit und Enthaltsamkeit und wie die beiden auf so grausame Weise miteinander verknüpft sind.
    Heutzutage spüre ich mein Alter. Ich sage mir, daß das an meiner langen Krankheit und den Anzeichen von Rheumatismus liegt, die mich an kühlen Oktobertagen wie heute plagen, aber manchmal träume ich von den vertrauten Straßen von Charleston und diesen letzten Tagen. Es sind Träume des Hungers.
    Als ich Culley im Mai losgeschickt hatte, Mrs. Hodges zu entführen, hatte ich nicht genau gewußt, in welcher Form ich für die alte Dame Verwendung haben würde. Manchmal schien es kaum der Mühe wert zu sein, sie im Keller der Villa Hodges am Leben zu halten, noch weniger, ihr Haar blau zu tönen, damit es meinem glich, und an ihr mit verschiedenen Injektionen zu experimentieren, die meine Krankheit simulieren sollten. Aber letztendlich hat es sich gelohnt. Als ich in den letzten Minuten einen Block von meinem Haus entfernt in dem gemieteten Krankenwagen wartete, bevor Howard mich zum Flughafen fuhr, wo unser Flugzeug schon bereitstand, würdigte ich, welche guten Dienste mir die Familie Hodges im Verlauf der letzten Jahre geleistet hatte. Ich konnte kaum mehr von ihnen verlangen. Es erschien mir überflüssig, die alte Frau ans Bett zu fesseln, wenn ich mir ihren Gesundheitszustand vorstellte, aber heute bin ich ehrlich davon überzeugt, daß sie, wäre sie nicht
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