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Komm

Titel: Komm
Autoren: Janne Teller
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die Verantwortung.
     
    Ja, so ist es.
    Er löscht den ganzen Absatz.
     
    Er sollte es von allen am besten wissen. Er kommt vom Rand. Dem Bereich zwischen Außerhalb und Innerhalb. Er hat die Macht, oder ist er ein Opfer der Macht?
    »Du bist einer von uns«, würde seine Frau sagen.
    »Sie muss es so sagen«, würde Lula einwerfen. Und hinzufügen: »Weil sie weiß, dass du in Wirklichkeit einer von uns bist.«
    Ihm selbst ist es egal. Es gilt, praktisch zu sein.
    Es ist praktisch, innerhalb verheiratet zu sein.
    Selbstverständlich hat er die Macht.
    Die Literatur, die sich verkauft, finanziert die, die sich nicht verkauft. So ist es immer gewesen. Das muss auch Petra Vinter verstehen: Die Bestseller des Autors finanzieren ihre mathematischen Lyriksammlungen.
    Er schreibt die letzten vier Zeilen noch einmal. Will sie dann ein weiteres Mal löschen, setzt sie aber schließlich in eckige Klammern. Fährt fort:
     
    In der Ausübung der Kunst entledigt sich der Künstler der Verantwortung, die wir Menschen im wirklichen Leben haben, eben weil die Kunst nicht die Wirklichkeit ist. Weil nämlich in der Kunst die Grenzen der Verantwortung, die wir in der Wirklichkeit haben, gefunden werden müssen, und das lässt sich nur bewerkstelligen, indem man zuallererst die in der Wirklichkeit existierenden Grenzen aufgibt.
     
    »Wir arbeiten ja auch nicht mit Versuchstieren, Giftstoffen, Atomwaffen und solchen Sachen.«
    »Wie kannst du von denen, die das tun, erwarten, dass sie an ihrem Platz Verantwortung übernehmen, während du das an deinem Platz nicht tust?«
    »Es ist Fiktion.«
    Es ist praktisch, Petra Vinter zu widersprechen.
    »Das sollte es umso leichter machen. Wird die Welt mit diesem Buch besser sein?«
    »Es ist Fiktion.«
    »Wird die Welt ohne dieses Buch schlechter sein?«
    »Daran kann man Kunst nicht messen. Das weißt du doch selber.«
    »Ist es Kunst?«
    »Es ist Fiktion.«
    »Etwas davon ist Wirklichkeit. Meine Wirklichkeit.«
    »Aber die Namen sind fiktiv. Keiner wird es wissen.«
    »Ich weiß es.«
    Sagte sie »ich«? Oder sagte sie:
    »Du weißt es.«
    »Ich habe geschwiegen aus Rücksicht auf etwas, das wichtiger war als ich. An dieser Geschichte soll sich kein anderer bereichern.« Sagte sie das, oder sagte sie: »Es wird Schaden anrichten, wenn diese Geschichte erscheint. Schaden für Morenzao. Schaden für mich.«
    Es ist praktisch, praktisch zu sein.
    »So ist die Welt. So ist die Wirklichkeit.«
    »Ist sie so?«
    Oder sagte sie:
    »Willst du sie so haben?«
     
    Er ist sich nicht ganz sicher, wie viel von diesem Dialog in Wirklichkeit abgelaufen ist und wie viel davon hier und jetzt in seinem Kopf entsteht.
    Es ist unpraktisch, mit Petra Vinter zu sprechen.
    Er sieht, wie ihr Mund die Worte formt »Ich habe geschwiegen aus Rücksicht auf …«. Aber hat sie es wirklich gesagt?
     
    Sie sagte auch nicht, dass sie sterben müsse. Oder?
    Es ist die Frau im Buch, die an Aids stirbt.
     
    Und was, wenn nichts davon wahr ist?
    Er kann doch hier nicht Richter in einem Prozess sein, der gar nicht stattfindet. Sie sieht gesund und munter aus, ihr fehlt bloß ein Stück vom Ohrläppchen. Wenn sie meint, sie habe hier eine Streitsache, muss sie den Rechtsweg einschlagen. Ja, so muss es sein.
    »Ich kann keinen Prozess gegen jemanden anstrengen, weil kein Gesetz es verbietet, die Geschichten anderer zu verwenden«, sagt sie.
    »Siehst du«, antwortet er.
    »Was sehe ich?«
     
    Er kann Petra Vinter nicht ausstehen.

VIII
    E r legt den Hörer auf.
    »Ja, das ist wahr«, sagte sein Freund, der Anwalt.
    »Sollte es so ein Gesetz geben?«
    »Das ist Sache der Politiker.«
    »Wir könnten doch eine Meinung dazu haben, hm?«
    »Ja, schon …«
    »Was meinst du?«
    »Was meinst du ? Du hast doch mit Literatur zu tun!«
    »Was ich meine?«
     
    Ja, was meine ich?
     
    Geschichten, die einmal der Öffentlichkeit zur Kenntnis gelangt sind, gehören der Öffentlichkeit und können somit von Künstlern nach ihrem freien Willen verwendet und wiederverwendet werden , schreibt er. Private Geschichten sind nur privat, solange der Urheber der Geschichte ihren privaten Charakter wahrt.
     
    Genau so ist es.
     
    Was ist mit der ersten Veröffentlichung?
    Hat man das Recht, eine Geschichte zu veröffentlichen, die einem in aller Diskretion anvertraut wurde, nur weil man die Namen verändert hat? Gibt einem die Fiktionalisierung den Freibrief dazu?
    Ja.
     
    Solange die Namen fiktionalisiert sind, kann nicht von Inkriminierung
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