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Komm

Titel: Komm
Autoren: Janne Teller
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stand. Am Fenster, wie hier. Er muss hereingekommen sein, um dem Lektor etwas zu sagen, wieso sollte er sonst da gewesen sein?
    Wenn die Züge aufhören zu fahren, muss er sehen, dass er eine Taxe ruft. Man wird sich darum reißen.
     
    Der Regen strömte herab und trommelte in lärmenden Kaskaden an die Scheibe.
    »Es war meine Schuld«, hatte sie gesagt.
     
    Warum sich an solche Sachen erinnern?

X
    K unst ist nicht Wirklichkeit , schreibt er. Der Künstler schöpft aus der Wirklichkeit, um eine fiktive Reflexion über die Wirklichkeit zu erschaffen.
     
    Aber wenn sich nun die Kunst ganz eng an die Wirklichkeit anlehnt? Ist es dann noch Kunst? Oder ist es dann Journalismus?
    Er schaut zum Manuskript hinüber. Besteht es bloß aus einer Reihe von Illustriertenartikeln, in denen die Namen geändert und die Fotos weggeschnitten sind? Und falls ja, welche Regeln gelten dann?
    Die der Literatur oder die des Journalismus?
     
    Warum sich darüber den Kopf zerbrechen?
    Es ist Fiktion. Was anderes ist dazu nicht zu sagen.
     
    Er steht auf, geht zum Fenster, macht auf dem Absatz kehrt, verlässt sein Arbeitszimmer und geht durch den Flur zur Haustür.
    Das Schneetreiben überfällt ihn wie ein Tuch aus eisigen Nadeln, keuchend tritt er einen Schritt zurück. Schließt die Tür nicht ganz. Wenn er sie nur eine Handbreit offen lässt, kann er ihre Fußspuren verfolgen, ohne von etwas anderem als einem schmalen Streifen kalter Stiche getroffen zu werden. Sie sind noch deutlich zu sehen. Aber auf der Straße sind sie zu weichen Vertiefungen geworden, die im Verlauf der Nacht verschwinden werden, wenn es weiter so schneit.
    Ist es überhaupt dieselbe Geschichte? Woher weiß man das mit Sicherheit? Könnte es nicht ebenso gut eine Lüge sein?
     
    Er ist nicht dafür verantwortlich zu prüfen, was in einem Buch der Wirklichkeit entnommen ist und was nicht.
     
    Die Verantwortung liegt bei demjenigen, der die Macht hat, die Verantwortung zu übernehmen.
    Schweig, Petra Vinter!
     
    Er sieht Lula in den Fußspuren stehen. Sie dreht den Kopf und öffnet den Mund, ohne zu lächeln, wie immer:
    »Kommst du?«
    Er schüttelt den Kopf.
    »Ich kann nicht.«
    Wie immer.
     
    Die Schneeflocken sind hart und scharf, sie tun weh, wenn sie auf seine Hand fallen, und dann sind sie geschmolzen und nur noch kalt, und er schließt die Tür und geht ins Badezimmer, trocknet Hand und Gesicht ab und geht wieder an seinen Schreibtisch.
     
    Sie schien darauf gewartet zu haben, dass er ihr die Frage stellte. Schon bevor er sie stellt, kramt sie drei Unterlagen heraus.
    »Bitte!«
    Den Zeugenbericht über den Mord an einem Mann mit afrikanischem Namen, unterzeichnet von Petra Vinter, das Foto einer weißen Frau in einer Gruppe schwarzer Männer mit UN -Baretten und Gewehren und das Foto einer übel zugerichteten jungen Frau in einem Krankenhausbett. Kein Zweifel, dass die Frau auf dem ersten Bild Petra Vinter ist. Und auf dem zweiten?
    »Außer Kleinigkeiten gibt es nur eine wesentliche Sache in dem Roman, die mit meiner Geschichte nicht übereinstimmt.«
    Er sieht sich die Frau im Krankenhausbett genauer an. Das Gesicht ist ein wenig unscharf, aber man sieht deutlich, wie geschwollen es ist, blaulila ein Wangenknochen, der Kiefer geschient, ein Verband über der rechten Augenbraue und das rechte Auge derart dick, dass sie es nicht aufmachen kann. Das Foto trägt keine Jahresangabe, aber auf der Rückseite steht ein Datum, der zwanzigste November.
    »Welche?«
    »Das ist egal. Oder?«
    Die eine Seite des Kopfes ist rasiert und die Wunde, vermutlich ein Riss oder Spalt, so gründlich verbunden, dass auch der größte Teil des linken Ohrs verdeckt ist.
    »Musst du sterben oder nicht?«
    Er hat Lust, sie das zu fragen, lässt es aber. Er kann sich die Antwort schon denken: Das müssen wir alle. Das nützt ihm gar nichts.
    Irgendetwas auf dem Bild zog seinen Blick an. Er weiß nicht mehr, was es war.
     
    Wie wesentlich weicht es von der Wirklichkeit ab, wenn der Autor schreibt, seine Hauptperson sei infolge bestimmter Ereignisse vergewaltigt worden, in einer Massenvergewaltigung, obwohl dies der realen Person nicht widerfuhr. Ist das nicht ein wesentlicher Unterschied? Oder ist es egal?
    War die Frau im Krankenhausbett Petra Vinter?
    Ist sie es?
     
    Er wendet den Kopf, draußen schneit es ohne Ende.
    Oder schlimmer: Wie viele würden die Geschichte wohl erkennen und glauben, sie sei es und genau so sei es gewesen?
    Wäre das Verleumdung? Oder doch nur
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