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Komm

Titel: Komm
Autoren: Janne Teller
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nicht. Sie sagte auch das Erstere nicht. Er dachte, wenn sie das bloß gesagt hätte, könnte er sich vielleicht, er betont das »vielleicht«, gegen eine Veröffentlichung des Manuskripts entscheiden. In seiner jetzigen Form. Man könnte es vielleicht überarbeiten, die schlimmsten Stellen streichen.
    Wie sie es darstellt, müsste allein sie dafür geradestehen.
    Das reicht nicht.
     
    Die Frage ist, welche Regeln gelten in der Kunst?
     
    Er löscht den Satz wieder. Ihr wird schon nichts passieren. Schreibt stattdessen:
     
    Zu fragen, welche Regeln in der Kunst gelten, ist sinnlos. Die Frage ist vielmehr, ob es überhaupt Regeln gibt? Ob es Regeln geben sollte. Oder ob es sich nicht eher so verhält, dass jede Regel durch ihre bloße Existenz darauf zielt, in Frage gestellt und übertreten zu werden.
     
    In der Wirklichkeit haben wir mehr als genug Regeln, denkt er und betrachtet wieder das Bild mit seiner Frau und seiner Tochter.
    Die Wirklichkeit.
    Die Wirklichkeit ist hier, und die Wirklichkeit ist, dass das, was im Roman des Autors steht, Fiktion ist und als solche gelesen wird und dass Fiktion derartiges bewirkt, damit muss sie leben. Die Wirklichkeit ist, dass sich dieses Buch millionenfach verkaufen wird.
    Die Wirklichkeit ist auch, dass seine Frau die Geschichte lieben wird. Das ist genau, was unsere Regierung braucht: dass man selbstverständlich die Zusammenarbeit mit der jungen Regierung Morenzaos abbrechen soll, weil sie ein so barbarisches Verhalten an den Tag gelegt hat. Zumindest bis Morenzao einwilligt, die abgewiesenen Asylbewerber aufzunehmen.
    Er blättert im Manuskript, kann die Stelle aber immer noch nicht finden. Hat nur das Gefühl, es irgendwo gesehen zu haben.
    »Es waren dreiundzwanzig«, berichtet sie. Als wäre die Zahl am wichtigsten. Nicht viele, nicht zwei Dutzend, nein, exakt dreiundzwanzig.
     
    Sie hätte ihre Geschichte niemals erzählen sollen.
    Niemandem.
    Nie einem Autor.
    Die Wirklichkeit ist, dass Petra Vinter ein Idiot ist!

XIII
    S ehen Sie Gandhi. Sehen Sie Mandela.
    Was macht manche Menschen größer als andere?
    Dass sie ihre eigenen unmittelbaren Gefühle für das große gemeinsame Gute beiseiteschieben können?
    Nein.
    Dass sie es tun.
     
    Sehen Sie Gandhi. Sehen Sie Mandela.
     
    Er weiß nicht, warum er so denkt. Er ist kein Mandela und hat nebenbei gesagt für Selbstaufopferung nicht viel übrig. Und hat Mandela nicht auch was davon gehabt, dass er siebenundzwanzig Jahre Gefängnis schluckte? Ohne Repressalien hinterher. Und dass er sein Volk die Vergangenheit schlucken ließ? Ohne Kompensation. Er wurde Präsident!
    Letzten Endes tun wir alle das, was für uns selbst am besten ist.
     
    Tun wir das nicht?
    Alle?
     
    Sehen Sie Gandhi. Sehen Sie Mandela.
    Aung San Suu Kyi. Desmond Tutu. Martin Luther King …
     
    Seine Frau ist Integrationsministerin. Sie verkehren in diesen Kreisen. Es ist Strindbergs Falander, der in Das rote Zimmer sagt: »Du weißt, jedes Glück, das dir zuteil wird, geschieht immer auf Kosten eines andern; wenn du eine Rolle bekommst, so kriegt eine andere sie nicht, und dann windet sich die wie ein getretener Wurm, und du hast etwas Böses getan, ohne es zu wollen; also selbst das Glück ist vergiftet.«
    Das ist wahr.
    Und wer das Glück will, muss akzeptieren, dass es für einige andere Unglück bedeutet.
    Das ist auch wahr.
    Er betrachtet das Bild seiner Frau. Selbst wenn er in ihren Kreisen geboren wäre, wäre sie die richtige Frau. Er war schon damals klug. Im voraus. Er wischt mit dem Handrücken einen kleinen Fleck vom Rahmen.
    Seltsam, wie Eitelkeit lange Zeit der Liebe ähneln kann.
    Er greift um seinen Ring, zwängt ihn über den Knöchel und legt ihn auf den Tisch. Wo er gesessen hat, ist eine Vertiefung, und die Haut ist gleichsam weißer, jünger. Jedenfalls weicher, als wäre der Teil von ihm, der vom Ring verborgen war, nicht gealtert wie der Rest.
    Seine Frau ist schön!
    Was soll man auch mit der Liebe?
     
    Lange Zeit ist nicht dasselbe wie immer.
     
    Er steht auf und geht zum Fenster.
    Der Schnee ist stärker geworden, der Wind auch, und die Flocken scheinen in alle Richtungen geweht zu werden, nur nicht nach unten. Die Liebe wird fürchterlich angepriesen. Dabei dreht sich in Wirklichkeit alles bloß um soziale Strukturen. Und dann natürlich um Sex. Aber Sex ist wie Nahrung: Man braucht ihn ab und zu. Nicht mehr und nicht weniger.
    Er muss an die Fortsetzung von Falanders Rede denken: »Dein Trost im Unglück sei,
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