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Komm

Titel: Komm
Autoren: Janne Teller
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antwortete nicht. Sah ihm nur stumm in die Augen. Das machte ihn wütend. Er weiß nicht, warum. Was er sah, war sie, die ihn sah.
     
    Er greift zum Telefon und ruft zu Hause an. Es werde spät, erklärt er.
    »Nicht schon wieder«, sagt seine Frau.
    »Du musst nicht auf mich warten.«
    »Ich hole dich auf dem Weg ab.«
    »Nein, bei dem Wetter solltest du nicht in die Stadt fahren. Das wäre unvorsichtig.« Er meint es ehrlich. Es ist unvorsichtig, bei dem Wetter zu fahren, und er freut sich über die Aufrichtigkeit in seiner Stimme. »Ich nehme ein Taxi.«
    Das Küchenpersonal legt immer etwas in den Direktionskühlschrank, was vom Mittagessen übrig bleibt.
    Seine Frau erzählt irgendetwas vom Sozialministerium und von einer integrationspolitischen Initiative, die ihren eigenen, gerade vorgelegten Vorschlag untergräbt. Er steht auf und geht zum Fenster und schaut hinaus. Er hört nicht zu. Unaufhörlich schwebt der Schnee durch die Dunkelheit und die Lichtfelder der Straßenlaternen und der Fenster gegenüber. Das ist seine Welt, aber plötzlich kommt es ihm vor, als wäre es doch nicht seine Welt. Er muss eine Rede schreiben. Hat das Universum verschiedene Regeln für verschiedene Personen? Das hat er irgendwo gelesen. Sie hat ihm das nicht gesagt.
    »Ich werde schon rechtzeitig kommen«, sagt er.
     
    Als er aufgelegt hat, geht er in die Küche und öffnet den Kühlschrank, um einen Teller mit irgendwas herauszunehmen. Aber der Kühlschrank ist leer. Ist auch egal. Er hat keinen Hunger.

III
    E he er seine Frau anrief, hatte er die ersten drei Kapitel gelesen. Es ist Fiktion. Faszinierende Fiktion, aber es gibt keinen, der solche Sachen wirklich erlebt. Das Buch fängt damit an, dass ein Wahlbeobachter erschlagen wird, mit dem Blut, das sich mit dem Staub auf dem afrikanischen Linoleum vermischt. Eine junge Frau ist die rechte Hand des Chefs der UNO in Morenzao. Die Seiten sind gewellt und die Ränder feucht, aber der Text ist noch lesbar. Sie blickt auf das getrocknete Blut und weiß nicht, dass ihr Leben im Begriff ist, ein anderes zu werden.
    An dieser Stelle rief er seine Frau an.
    Siebzehn Uhr fünfunddreißig.
     
    Die Leute glauben oft, Dinge erlebt zu haben, die sie gar nicht erlebt haben. Sie gab keine Antwort, als er sie fragte:
    »Hat dir jemand in Morenzao etwas angetan?«
    Das sind so Geschichten, die man in Romanen liest.
    Sie sah ihn bloß an. Er kam sich wie ein Idiot vor, obwohl sie gar nichts sagte und kein Ausdruck in ihren Augen sein Gefühl, ein Idiot zu sein, untermauerte. Als ob es einzig und allein seine Verantwortung wäre, dass er sich durch ihren Blick wie ein Idiot vorkam.
    Was im Roman angeblich später folgt, ließ ihn diese Frage stellen.
    Er blättert vor, versucht die Passage zu finden, ärgert sich über die feuchten, verklebten Seiten.
    Sie hielt ihn nicht für einen Idioten. Oder?
     
    Angetan. Vielleicht war es das Wort. So redet man nicht, wenn man von Krieg und Vergewaltigung in Afrika spricht? Aber sie ist es nicht gewesen. Wo steht es? In der Mitte? Weiter hinten?
    Ja, sie ist dort gewesen, das weiß er, das wissen alle. Was war noch mal ihr Job? Sie spricht nie darüber. Das heißt, doch, in so seltsam distanzierten Wendungen. Die beiden Jahre in Morenzao. Das ist alles. Diese Augen von weit her. Wie zwei aus ihrem Leben genommene Jahre und so ein seltsamer Unterton der, wie kann man ihn beschreiben, ja, der Freude. Nicht des Entsetzens.
    Er überfliegt die mittleren Kapitel, aber er findet die gesuchte Stelle nicht.
    »Ein Land, das vom Krieg zum Frieden überging, und ich durfte dabei sein«, hatte sie vor einigen Jahren einmal gesagt. Genau das ist es, kein Grauen. Jetzt erinnert er sich, es war beim Festessen für den Albert-Preis.
    »Wir müssen alle das Unsrige tun.« Hatte sie gesagt. Und gelächelt, die Augen von weit her. Als wäre es ihr Verdienst.
    Das ist es, was so lächerlich ist.
     
    Er gibt die Suche nach der Stelle im Buch auf, stattdessen legt er die beiden Stapel aufeinander. Er reißt einen blauen Zettel vom Notizblock und heftet ihn auf die Vorderseite des Manuskripts.
    Als hätte sie persönlich Morenzao gerettet!
     
    Er hat noch eine Rede zu schreiben und legt das Manuskript in den Postausgang mit dem Vermerk:
     
    »Zum Satz.«

IV
    E s ist fast achtzehn Uhr, und er muss noch eine Rede vorbereiten, bevor er gehen kann.
    Wenn sie nicht gekommen wäre, hätte er schon halb fertig sein können. Nicht dass er Lust hätte zu gehen. Es ist eines
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