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Komm

Titel: Komm
Autoren: Janne Teller
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dieser politischen Abendessen, die für seine Frau wichtig sind und bei denen er mitmacht, weil es auch für ihn nützlich sein kann. Er ist nicht in ihren Kreisen geboren. Morgen soll er auf einer internationalen Konferenz in Wien einen Vortrag über Ethik in der Verlags- und Literaturbranche halten.
    Was hatte sie gesagt:
    »Du hast die Wahl.«
    Sie hat einen Namen, aber wenn er an sie denkt, dann nicht so. Er weiß nicht, warum, aber auch das kann egal sein.
    Ist doch alles Unsinn. Was der meistverkaufte Autor des Landes schreibt, hat er ganz allein zu verantworten.
     
    Ein Verlag ist für den Autor ethisch nicht verantwortlich , schreibt er. Es gehört zur Verantwortung des Verlegers, den Autor darauf aufmerksam zu machen, dass sein Werk für andere anstößig sein kann, aber es liegt allein in der Verantwortung des Autors, ob er es wünscht, etwas eventuell anstößig Wirkendes zu veröffentlichen.
     
    »Wenn jemand seiner Verantwortung nicht bewusst ist, geht sie automatisch an denjenigen über, der das erkennt.«
    Sie ist unerträglich. Er kann schon verstehen, dass die meisten sie nicht ausstehen können. Sie hat etwas extrem Provozierendes. Und dann diese Augen, grau, durchsichtig. Er schiebt den feuchten Manuskripthaufen an den Rand seines Schreibtischs. Als ob sie schon längst alles gesehen, alles verziehen hätte.
    Der Schreibtisch ist aus Kirschholz und hat eine eingelassene Schreibunterlage aus grünem Leder. Er ist groß. Als ob sie keiner mehr mit irgendetwas überraschen könnte. Er drückt so fest auf die Tastatur, dass sich das T verklemmt und er ein Weilchen braucht, um die Taste wieder an ihren Platz zu bekommen. Das ist sein Verlag! Wenn sein Schwiegervater stirbt, wird es sein Verlag.
    Wofür sollte sie ihm verzeihen?
    Seine Frau ist schöner als Petra Vinter!
     
    Fiktion ist nicht Wirklichkeit. Ein literarisches Manuskript kann deshalb nicht nach einem ethischen Maßstab beurteilt werden, der für andere Bereiche des Lebens gilt , schreibt er.
     
    »Nicht?«, hört er ihre Stimme.
    Er steht auf und geht zum Fenster, schaut hinaus.
    Ist es das, was sie sagen wollte?
    Der Schnee tanzt durch die winterliche Dunkelheit, und in den Lichtkegeln der drei Straßenlaternen scheint ein endloser Insektenkampf geführt zu werden. Der Wind hat zugenommen. Im Gebäude gegenüber sind fast alle Fenster erleuchtet. Es sind Privatwohnungen, Leute, die nach Hause gekommen sind, um hinter den Sprossenscheiben zu Abend zu essen.
    Er schaut auf die Wanduhr, eine längliche Magnetuhr aus Silber. Achtzehn Uhr siebzehn. Seine Frau muss auf dem Sprung sein. Das Haar eingedreht, ein paar ausgesuchte Dinge in dem ausgesuchten Abendtäschchen, sie schraubt die Ohrringe fest, während ihre Füße mit dieser vollkommen sicheren Zerstreutheit nach den Stilettos suchen, die ihn immer gefuchst hat. Sie sind für achtzehn dreißig eingeladen.
    »Er hatte es mir versprochen«, sagte sie. »Dass er nie darüber schreiben würde.«
    Einer plötzlichen Eingebung folgend geht er hinaus und reißt die Haustür auf. Ihre Spuren auf den Treppenstufen unter dem Vordach sind immer noch deutlich, aber auf der Straße ist die Schleifspur zwischen den Abdrücken zu einer kaum sichtbaren Senke geworden, und die regelmäßig aufeinanderfolgenden scharfen Stiefelspuren haben sich in abgerundete Vertiefungen verwandelt, so als wäre da keine Person, sondern eher ein ballähnliches Wesen über die Straße und den Bürgersteig gehopst.
    Er muss an Lula denken. Er hat schon lange nicht mehr an sie gedacht.
    Idiot.
     
    »Bedeutet ein Versprechen gar nichts mehr?«

V
    S chriftsteller, ja, Künstler allgemein, haben sich stets des Materials bedient, das ihnen klar vor Augen lag. »Ausgeliefert« würden manche sagen, aber es heißt nicht ausliefern, wenn etwas Kunst ist. Schauen Sie sich Picassos entlarvende Gemälde von den Frauen an, die ihm nahestanden. Ob Dora Maar sich wohl gefreut hat, dass sie als Weinende Frau ausgestellt wurde? Aber wären wir nicht alle ärmer ohne diese Bilder? Nehmen Sie Auf der Suche nach der verlorenen Zeit , Der große Gatsby , Buddenbrooks .
    Gibt es andere Regeln, als dass die Kunst außerhalb der Regeln der Wirklichkeit steht, weshalb es keine anderen Regeln gibt, als dass die Kunst gut sein muss?
     
    Er hat den Faden gefunden, jetzt läuft es. Er nennt eine Reihe anderer Beispiele. Joyce, Hemingway, Duras … Ganz zu schweigen von der Bekenntnisliteratur der siebziger Jahre. Er zählt Beispiele aus aller
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