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Komm

Titel: Komm
Autoren: Janne Teller
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vorwerfen.
    Warum ist er sich so sicher, dass das über sie gesagt wurde?
    Was haben sie ihm vorzuwerfen?
     
    Wenn der Künstler den eigenen Pakt mit seiner Umgebung nicht einhält, ist dies selbst eine Form von Pakt: Dann muss seine Umgebung nur lernen, dass gerade in der Wiederholung des nicht eingehaltenen Pakts der Pakt ebendieses Autors besteht.
     
    Sie haben doch alles bekommen.
    Wer weiß, wo Lula heute ist.
     
    Er schaut zum Fenster. Von hier ist der Schnee in der Dunkelheit draußen eine flimmernde weiße Wand.
     
    Es ist nicht seine Verantwortung. Sie muss mit dem Autor darüber reden.
    »Ich hab’s versucht«, sagte sie. »Er meint, es sei Zufall. Dass er sich an nichts erinnere. Dass er gar nicht gewusst habe, dass ich da gewesen bin. In Morenzao.«
    Kann man überhaupt umhin, das zu wissen?
     
    »Und der andere, der dabei war? Er könnte es doch bestätigen.«
    »Er hat eine Frau. Und Interessen, die er schützen muss. Er sieht zu dem Autor auf.«
     
    In dieser Branche musste man sich so einiges anhören. Vor ein paar Wochen erst war einer seiner Lektoren den Klagen eines Autors ausgesetzt gewesen, der darauf hingewiesen hatte, dass eine ganze Reihe von Sätzen aus seinem gut besprochenen, aber schlecht gegangenen Buch fast wörtlich in einem tausendfach verkauften Roman eines anderen Autors stünden.
    »Ich schau mir das mal an«, hatte er gesagt. Die beiden Bücher mit eingelegten Fähnchen lagen nach wie vor ungeöffnet auf seinem Tisch. Aber er konnte sich doch nicht um alles kümmern, was ihnen grade durch den Kopf ging. Er langt nach den beiden Büchern und schlägt sie an zwei zufälligen Fähnchen auf. Stimmt, die Sätze sind identisch … Er blättert zur nächsten Stelle, hier auch. Und zur dritten. Vierundzwanzig Sätze, die ganz genau übereinstimmen. Und dreißig, in denen besondere Wendungen übernommen wurden. Siebzehn, in denen der Rhythmus der Wortwahl exakt derselbe ist.
    Lula würde sagen, man könne die Chemikalien an den Fingern schmecken.
    Was würde Petra Vinter sagen?
    Meinte sie das, als sie sagte, die ganze Branche habe ein Problem? Wusste sie von dieser Geschichte?
     
    Alle Schriftsteller haben zu allen Zeiten auf dem bereits Existierenden aufgebaut, haben sich auf die Schultern ihrer Vorgänger gestellt , schreibt er. Wann aber wird etwas zur Kopie? Wie viele Sätze, Wendungen oder Passagen müssen übereinstimmen, damit es Diebstahl wird? Bestenfalls Nichtoriginalität?
     
    Die Frage ist, ob der Fall so selten ist. Vergreifen sich alle Autoren? Oder bloß einige? Und gehört es nicht einfach zum Handwerk? Wo verläuft die Grenze, wenn es sowieso oft das Leben anderer ist, das in den Büchern geschildert wird? Heißt das nicht auch, von anderen zu stehlen?
     
    Vielleicht bedeutet das Schriftstellersein an sich, einen faustischen Handel einzugehen. Seine Seele zu verkaufen, um etwas Größeres zu erschaffen. Denn Ideen – woher kommen sie? Wo entsteht die Fiktion, wenn nicht aus der uns umgebenden Wirklichkeit?
     
    Sie hat es nicht so gesagt, wie er vorhin dachte: »Sieht zu dem Autor auf.« Nein, war es nicht eher: »Braucht ihn«?
    »Er braucht den Autor.«
    Oder hat sie gar nichts Entsprechendes gesagt?
     
    Er läuft in die Küche und macht den Kühlschrank auf, aber als die Innenbeleuchtung angeht, fällt ihm ein, dass er leer ist. Er schaut auf die Uhr, neunzehn elf. Wenn er sich beeilt, kommt er noch pünktlich zum Hauptgang.
     
    »Mir kann es egal sein«, sagte sie. »Ich muss sterben. Du musst damit leben.«
     
    Von ihrem einen Ohr fehlt ein kleines Stück.

VII
    A lle Geschichten gehören anderen , schreibt er. Nicht einmal die Geschichte unseres eigenen Lebens kann erzählt werden, ohne dass gleichzeitig die Geschichte vom Leben anderer Menschen erzählt wird.
     
    Er betrachtet das Bild seiner jüngsten Tochter. Was wird sie eines Tages über ihn schreiben? Wenn sie das Schreiben wählen sollte.
     
    »Afrika ist weit weg«, hat er gesagt.
    »Ich bin hier.«
    Wir sind in derselben Welt, hört er sie fortfahren, aber so hat er es nicht in Erinnerung. Nein, sie erwiderte bloß ihr »Ich bin hier«, als sagte das alles. Lula würde sagen, so ist es.
     
    Wir haben die Verantwortung für den, der vor uns steht , schreibt er.
     
    Korrigiert es dann zu:
     
    In welchem Maße wir die Verantwortung haben für denjenigen, der vor uns steht, hängt davon ab, ob wir stärker oder schwächer sind. Wer die Macht hat, das Leben des anderen zu beeinflussen, hat auch
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