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Komm

Titel: Komm
Autoren: Janne Teller
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diesem Land.
    Sind nicht alle Länder so?
    Was andere einem antun, kann man überleben. Nicht, was man selber anderen antut.
    Was ist denn los mit dieser Aussage?
    Wenn es nun wahr ist, wenn die Geschichte wahr ist, wie sollte sie sie dann erzählen?
    Vielleicht sind wir bloß nicht daran gewöhnt, wie Leben und Tod erzählt werden, dass es sich so er weiß nicht wie anhört, er hat kein Wort dafür.
    Oder misst sie das Leben an einem Standard, einem Bezugsrahmen, der ihm fremd ist, aber nicht fremd sein sollte?
    Ist es das?
    Als stünde sie außerhalb einer Glasglocke, die ihn einschließt?
    Und du selbst hast dich dafür entschieden, dass sie dich einschließt!
    Schweig!
    Zitter, zitter: Der Schnee flutet still über Feld und Weg.
    Er hält sich die Ohren zu, steht auf, tritt nach dem Tischbein, ertappt sich dabei, schüttelt den Kopf und zwingt sich wieder auf den Stuhl.
     
    Es handelt sich um Literatur!
     
    In der wirklichen Welt hat der Künstler anderen Menschen gegenüber eine Verantwortung. Nicht in der Ausübung seiner Kunst.
     
    Was haben sie ihr angetan?
    Wer sind sie gewesen?
     
    Er ist in keiner Glasglocke eingeschlossen!
     
    Somit vollzieht es sich in der Begegnung der Kunst mit der Welt der Wirklichkeit, dass der Künstler seine Verantwortung auf sich nehmen muss , schreibt er. Denn in der Welt der Wirklichkeit haben wir allesamt eine Verantwortung. Jeder von uns hat Verantwortung für sich selbst und seine eigenen Handlungen. In diesem Licht muss unser Leben gemessen werden, deshalb müssen wir auch in diesem Licht unsere Wahl treffen.
    Dies gilt für Künstler wie für alle anderen.
    Auch für Literaturvermittler.
    Auch für Verleger.
     
    Er schaut auf das Manuskript.
    Schmutziges afrikanisches Parkett und Geckos an der Decke.
    Ein Stückchen Ohr.
     
    Langsam lässt er die Seiten ein paarmal durch die Hände gleiten. Dann schmettert er den Stapel fest auf die Tischkante. Streicht die Notiz auf dem blauen Zettel durch und schreibt stattdessen:
     
    »Kann in dieser Form nicht erscheinen!«
     
    Legt Zettel und Manuskript in den Postausgang und macht sich wieder an die Rede.

XII
    W as andere uns antun, ist keine Entschuldigung für das, was wir anderen antun. Man hat nur seinen eigenen Standard, seine eigenen Taten, an denen man sein Leben messen kann. In der Welt der Kunst heißt das, dass das Leben anderer Menschen niemals preisgegeben werden sollte. Nicht einmal aus Rache.
     
    Er zögert, ist sich nicht ganz sicher, wohin ihn der Gedanke führen wird, fährt langsam fort:
     
    Dabei kommt dies vor und ist immer vorgekommen. Auch in unseren großen klassischen Werken. Selbst Dante versetzte seine politischen Feinde leicht erkennbar in den Neunten Kreis der Hölle.
     
    Er lehnt sich zurück. Was wäre die italienische Literatur ohne Dante? Was die italienische Sprache? Auch Shakespeare benutzte die Wirklichkeit, um seine Dramen zu schaffen. Aber das war die öffentliche, die historische Wirklichkeit. Und was ist mit Proust? Ist er nicht die Inkarnation der als Poesie wiedergegebenen Wirklichkeit (auch wenn es andere Prosa nennen)? Was ist mit Tolstoi, Dostojewski, Puschkin? Wo haben die ihre Geschichten gefunden? Und Balzac, auch er spielte die ganze Zeit mit der Wirklichkeit. Und ich wüsste zu gern, ob nicht sogar Don Quichotte nach dem Vorbild eines wirklichen Toren modelliert wurde.
     
    Nach diesem Maßstab kann Kunst nicht ethisch beurteilt werden , schreibt er.
     
    Er denkt an Hans Christian Andersen, der seine Märchen nach der Wirklichkeit dichtete. An Tove Ditlevsen, die über ihr Leben schrieb ohne Rücksicht darauf, dass sie damit auch all die Leben schilderte, die in ihr eigenes involviert waren. Und schön darüber schrieb.
    Er reißt den Notizzettel vom Manuskript, knüllt ihn zusammen und wirft ihn weg. Schaut auf das Bild seiner Frau und hat Lust, es auch wegzuwerfen.
    Die Uhr zeigt zwanzig zweiundvierzig. Mit etwas gutem Willen kann er immer noch ankommen, bevor der Nachschlag zum Hauptgang angeboten wird.
     
    In der Welt der Kunst gelten andere Regeln.
     
    »Der Überfall?«
    »Ja, was ist damit?«
    »Sie wissen nicht, dass ich sie erkannt habe … Auch wenn ich nicht von der UNO gefragt werde, wird es in der Presse verwendet. Wenn dieses Buch jemals gelesen wird von …« Sie hebt die Hand an ihr Schlüsselbein.
    »Das ist doch Fiktion, das Ganze.«
    »Sicher?«
    Es wird politisch verwendet werden.
    Im letzten Punkt hat sie möglicherweise recht, aber sie sagte es
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