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Fluesterndes Gold

Fluesterndes Gold

Titel: Fluesterndes Gold
Autoren: Carrie Jones
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Carrie Jones
     
    Flüsterndes Gold
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    Phobophobie
    Die Angst vor der Angst
    Jeder hat vor irgendwas Angst, oder?
    Ich kenn mich da aus.
    Ich sammle Ängste wie andere Leute Briefmarken. Das klingt sehr verrückt, eigentlich bin ich gar nicht so verrückt. Ich interessiere mich eben dafür. Für verschiedene Ängste. Phobien.
    Da gibt’s zum Beispiel ganz typische, weit verbreitete Phobien. Viele Menschen fürchten sich vor großen Höhen, Spinnen oder in Fahrstühlen. Das ist langweilig. Ich bin ein Fan von anspruchsvollen Phobien. So was wie: Nelophobie, die Angst vor Glas. Oder Arachibutyrophobie, die Angst, dass einem Erdnussbutter am Gaumen kleben bleibt.
    Ich habe natürlich keine Angst vor Erdnussbutter, aber ist es nicht irre, dass es einen Namen für so was gibt?
    Man versteht die Dinge viel besser, wenn man einen Namen für sie hat. Ich selbst fürchte mich vor allem vor dem Unbekannten.
    Den Namen für diese Angst kenne ich nicht, aber ich weiß, dass ich sie habe, die Angst vor dem Unbekannten.
    Mnemophobie
    Die Angst vor Erinnerungen
    Flugzeuge sind ätzend. Du kannst nicht raus, sondern bist gezwungen in den Himmel zu starren, und dann fängst du an über Dinge nachzudenken, über die du vielleicht gar nicht nachdenken willst.
    Mnemophobie ist eine echte Angst. Ich habe sie nicht erfunden. Ehrlich. Man kann sich vor Erinnerungen fürchten, und es gibt nicht einfach einen »Aus«-Knopf für das Gehirn. Es wäre wirklich ganz wunderbar, wenn es den gäbe.
    Also drücke ich meine Finger auf die Augen und versuche so, die Erinnerungen zu verdrängen. Ich konzentriere mich auf die Gegenwart, auf das Heute. Das sagen die Leute in den Talkshows auch immer: Lebe im Hier und Jetzt.
    Als mein Dad starb, habe ich mir einen weißen Faden um den Ringfinger gewickelt. Er soll mich daran erinnern, dass ich früher einmal etwas gefühlt habe, dass ich einmal einen Dad hatte, ein Leben. Der Fadenring hat sich gedreht. Der Knoten zeigt zu meinem kleinen Finger. Als ich gerade an ihm zupfe, schlägt der Typ neben mir die Beine übereinander und rammt mir seinen riesengroßen Schuh in den Oberschenkel.
    »’tschuldigung«, sagt er,
    »Kein Problem.« Meine Hände schieben all die Amnesty-International-Aufrufe beiseite, die mich bitten, noch mehr Briefe für gefolterte Mönche oder vermisste Studenten zu schreiben.
    »Nichts für ungut, ist alles in Ordnung? Du kommst mir vor wie ein Zombie.«
    Ich schaffe es, den Kopf zu drehen und ihn anzusehen. Er hat eine kräftige Nase, fleischige Wangen – Typ: weißer Geschäftsmann. Mein Mund bewegt sich. »Was?«
    Er lächelt. Nach Kaffee riechender Atem strömt aus seinem Mund. »Du bist schon den ganzen Flug über auf Autopilot, schreibst diese Briefe, willst die Welt retten, aber wirkst wie ein richtiger Zombie.«
    Die Worte versetzen mir einen Stich. »Mein Dad ist vor Kurzem gestorben. Eigentlich mein Stiefvater. Ich habe ihn Dad genannt. Er war mein Dad. Er hat mich aufgezogen.«
    Das leutselige Lächeln auf dem Gesicht des Mannes erlischt. »Oh, das tut mir leid.«
    Seine Verlegenheit ist mir unangenehm. »Schon gut. Ich bin nur …«
    Gibt es ein Wort für »innerlich tot«? Zombie-artig? Das ist nicht einmal ein Wort. Zombifiziert?
    Er lässt nicht locker: »Dann gehst du jetzt wieder zur Schule, oder? Gehst du in Maine zur Schule?«
    Ich schüttle den Kopf, nein, aber ich kann ihm nicht alles erklären. Ich kann es ja nicht mal mir selbst erklären. Meine Mom hat mich hergeschickt, weil ich seit vier Monaten nicht mehr gelächelt habe. Seit vier Monaten kann ich nicht weinen oder etwas fühlen oder überhaupt irgendetwas tun.
    »Ich fahre zu meiner Großmutter und bleibe bei ihr«, bringe ich schließlich heraus.
    Er nickt, hustet und sagt: »Ach so. Das ist gut. Allerdings die falsche Jahreszeit für Maine. Winter. Höllisch kalt.«
    Meine Großmutter, offiziell meine Stiefgroßmutter, holt mich in Maine am Bangor Airport ab. Wahrscheinlich gibt es auf der ganzen Welt keinen kleineren Flughafen, der eine längere Rollbahn hat. Unser Flugzeug landet. Und ich sehe einen sonnenlosen Himmel. Na klar. Nichts wird gut, wenn sogar der Himmel grau und kalt ist.
    Ich schiele nach meinem Parka, ziehe ihn aber nicht über. Das hieße, sich zu früh geschlagen geben.
    Schließlich ist erst Ende Oktober, oder?
    Wie schlimm kann’s da schon sein?
    Schlimm.
    Kalte Luft strömt
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