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Komm

Titel: Komm
Autoren: Janne Teller
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dass du mit jedem Missgeschick, in das du gerätst, eine gute Tat vollbracht hast, wenn auch ohne es zu wollen, und unsre guten Taten sind der einzige reine Genuss, den wir haben.«
     
    Es kommt ihm vor, als sähe er Lula in den Fußspuren mitten im Schnee, der ihr ins Gesicht peitscht, das auf die Scheibe und ihn dahinter gerichtet ist.
    »Kommst du?«
     
    Oder ist es Petra Vinter?
    »Jeden Tag hat man die Wahl, von vorne anzufangen«, sagt sie.
    Ihn überwältigt eine unbändige Lust auf sie.
     
    Idiot.

XIV
    E r hat noch nie die Frau in ihr gesehen.
    Wieso eigentlich nicht? Sie besitzt eine merkwürdig zeitlose Schönheit. Als könnte sie aus den zwanziger ebenso wie aus den sechziger Jahren stammen. Schwarzes Haar, weiße Haut, graue Augen. Obwohl sie nicht viel älter als fünf- oder sechsunddreißig sein kann, hat sie dunkle Ringe unter den Augen, blauschwarze, und sie tut nichts, um sie zu verbergen. Schön ist sie nicht. Egal, was einige sagen. Sie ist groß und schmal. Ein Knabe in einem Frauenkörper. Oder richtiger: eine Frau in einem Knabenkörper. Aber nicht deshalb hat er sie nicht beachtet. Es sind die schmalen Lippen, sie erzählen, dass Petra Vinter eine Frau ist, der man nicht näherkommen kann. Nein. Keine Lust hat näherzukommen. Blauschwarze Ringe, die ihn sehen, der sie sieht.
    Er schiebt den Ring wieder auf den Finger.
    Es gibt viele andere Frauen.
     
    Sie hat etwas unendlich Altes und gleichzeitig auffallend Junges, fast Kindliches.
     
    Es liegt in der Natur der Kunst, dass jede Künstlergeneration versucht, die Regeln zu brechen, welche die vorhergehende Generation aufgestellt hat.
     
    Er lügt. Er hatte Petra Vinter schon bemerkt, als er im Korridor des Verlags das erste Mal an ihr vorbeiging. Was er sah, war sie, die ihn sah.
     
    Er berichtigt »Regeln« in »Normen«.
     
    Die Kunst ist mithin von Natur aus grenzüberschreitend. Die Frage ist nur, welche Grenzen sie überschreitet. Manchmal sind es die der Wirklichkeit, aber manchmal sind es die Grenzen zu etwas, das wir gewöhnlich nicht zu sehen wünschen.
     
    »Ich habe nichts zu beweisen. Die Geschichte kennt die Wahrheit«, sagt sie. »Sie wird auch deine kennen.«
    Oder hat sie das gesagt? Letzteres?
     
    Kunst entsteht aus dem Bedürfnis, etwas zu erschaffen. Nicht aus einer ethischen Überlegung. Nur das Bedürfnis ist eine Triebkraft, die groß genug ist, den Weg der eigentlichen Kunst zu gehen. Kunst entsteht in dem Abgrund zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir gern sein wollen. Zwischen dem, was wir nach außen hin sind, und dem, was wir innerlich sind.
     
    Wenn sie jetzt hier wäre, würde er ihr die Kleider vom Leibe reißen.
     
    Idiot!

XV
    E r war frisch verheiratet, als er zum ersten Mal untreu wurde.
    Es gibt keinen Grund, es hinauszuschieben, wenn man erst eingesehen hat, dass ein Versprechen ohnehin nicht ein Leben lang halten wird. Seither wurde es eine Angewohnheit. Auch der Mangel an Wahrheit. So sind die Ehen. Wir tun es trotzdem, dafür muss es doch einen Grund geben? Er ist immer vorsichtig gewesen. Hat es meist im Ausland gemacht. Wäre es besser gewesen, zu träumen als zu wagen? Oder wäre das nicht einfach nur Heuchelei und Mangel an Mut? Er ist der Ehe treu. Er ist geblieben. Sie auch. Selbst damals mit Lula verließ er sie nicht.
    Er hat seine Frau immer mit Respekt behandelt.
    Mit der Zeit ist er auch im Lügen besser geworden.
     
    Künstler betrügen genau wie alle anderen Menschen. Es ist geradezu ihr Metier zu lügen. Eine Imagination außerhalb der Wirklichkeit zu erschaffen, welche auf die eine oder andere Weise die Wirklichkeit reflektiert. Die Kunst ist ein Zerrspiegel der Wirklichkeit. Manche Spiegel ähneln ihr mehr als andere. Manche sind mit der Wirklichkeit identisch …
     
    Mitten im Satz hält er inne. Ist ein solcher Spiegel der Wirklichkeit Kunst?
    In der Fotografie wird das real Wirkliche Pressefotografie genannt, es zählt nicht zur Kunst. In der Literatur ist das, was wie die Wirklichkeit ist, Fachliteratur, Journalismus, Biografie oder Autobiografie. Wann wird etwas Kunst?
    Wie viel muss der Spiegel verzerren?
     
    Kunst ist etwas, das unter die Oberfläche dessen dringt, was wir allgemein Wirklichkeit nennen , schreibt er.
     
    Was ist Wirklichkeit?
    Vergiss die Moral. Vergiss den anderen. Was ist mit dir selber?
    Was ist hinter den Lügen?
    Wer ist dahinter?
     
    Was für eine langweilige Sphäre, in der er sich hier bewegt!
     
    Er wählt noch einmal Veras
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