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Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan

Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan

Titel: Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
Autoren: Kathy Reichs
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jeden Abend hinaufquälten. Sie hatte ihre Bohnen verkauft. Wahrscheinlich war sie fröhlich.
    Dann das Grauen.
    Zwei Jahrzehnte reichen nicht zum Vergessen. Ein Leben reicht nicht.
    Ich frage mich, wie oft sie an sie dachte. Gingen ihre Schatten mit ihr, wenn sie sich zum Markt schleppte, auf demselben Weg, den sie an diesem verhängnisvollen Tag gegangen war? Schlüpften sie durch den zerrissenen Fetzen, der ihr Fenster verhüllte, wenn jeden Abend die Dunkelheit über das Tal hereinbrach? Bevölkerten sie ihre Träume? Kamen sie grinsend und lachend zu ihr, wie sie es im Leben getan hatten? Oder blutig und verkohlt, wie sie sie im Tod gefunden hatte?
    Meine Sicht verschwamm, ich senkte wieder den Kopf und starrte die Erde an. Wie war es möglich, dass menschliche Wesen anderen menschlichen Wesen so etwas antaten? Hilflosen und wehrlosen Frauen und Kindern? In der Ferne hörte ich Donner grollen.
    Sekunden, vielleicht Jahre später brach die Befragung ab, eine unübersetzte Frage hing noch in der Luft. Als ich den Kopf hob, sah ich, dass Maria und ihr Übersetzer zum Hügel hinter mir starrten. Mrs. Ch’i’p hielt, die Hand an der Wange, die Finger eingekrümmt wie ein Neugeborenes, den Blick weiter auf ihre Sandalen gesenkt.
    »Mateo ist zurück«, sagte Elena Norvillo, ein Mitglied der FAFG aus der Region El Petén. Ich drehte mich um, als sie aufstand. Der Rest des Teams blieb unter dem Zelt und sah von dort aus zu.
    Zwei Männer trotteten einen der vielen Fußpfade herunter, die sich durch die Schlucht schlängelten, der vordere in blauer Windjacke, ausgewaschenen Jeans und brauner Kappe. Obwohl ich deren Aufdruck nicht entziffern konnte, wusste ich doch, dass er FAFG lautete. Wir sechs Wartende trugen dieselben Kappen. Der Mann, der ihm folgte, trug Anzug und Schlips, und in der Hand hielt er einen Klappstuhl.
    Wir sahen zu, wie die beiden sich einen Weg bahnten durch dürre Maisstauden, umringt von diversen anderen Pflanzen, wobei sie darauf achteten, nichts zu beschädigen. Ein Bohnensämling. Ein Kartoffelkeimling. Für uns unbedeutend, aber wesentlich als Nahrungs- oder Einkommensquelle für die Familie, der sie gehörte.
    Als sie nur noch zwanzig Meter entfernt waren, rief Elena.
    »Hast du’s geschafft?«
    Mateo reckte den Daumen in die Höhe.
    Die Unterbrechung der Ausgrabung war von einem örtlichen Amtsrichter angeordnet worden. Nach seiner Interpretation des Exhumierungsbefehls durften keine Arbeiten stattfinden, wenn nicht ein Richter, das guatemaltekische Äquivalent eines Bezirksstaatsanwalts, anwesend war. Als dieser Amtsrichter uns früh an diesem Morgen besucht und keinen solchen Richter vor Ort angetroffen hatte, hatte er den Stopp der Grabungen befohlen. Mateo war nach Guatemala City gefahren, um eine Aufhebung dieses Spruchs zu erreichen.
    Mateo führte seinen Begleiter direkt zu den beiden uniformierten Wachen von der Nationalen Zivilpolizei und zog ein Dokument hervor. Der ältere Polizist schob sich den Gurt seiner Halbautomatik höher auf die Schulter, nahm das Papier und las mit gesenktem Kopf, sodass sich das langsam verlöschende Nachmittagslicht in seinem glänzend schwarzen Mützenschirm spiegelte. Sein Partner stand nur da, einen Fuß vorgestreckt, mit gelangweilter Miene.
    Nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Besucher im Anzug gab der ältere Polizist Mateo das Dokument zurück und nickte.
    Die Dorfbewohner schauten stumm, aber neugierig zu, wie Juan, Luis und Rosa aufstanden und sich, wie Basketballspieler, mit erhobenen Händen abklatschten. Mateo und sein Begleiter gesellten sich am Brunnen zu ihnen. Elena folgte.
    Als ich zum Zelt ging, warf ich noch einen kurzen Blick auf Mrs. Ch’i’p und ihren erwachsenen Sohn. Der Mann machte ein wütendes Gesicht, jede seiner Poren schien Hass auszuschwitzen. Hass auf wen, fragte ich mich. Auf diejenigen, die seine Familie abgeschlachtet hatten? Auf diejenigen, die aus einer ganz anderen Welt gekommen waren, um die Ruhe ihrer Knochen zu stören? Auf weit entfernte Behörden, die auch noch die kleinsten Bemühungen behinderten? Auf sich selbst, weil er diesen Tag überlebt hatte? Seine Mutter stand hölzern und mit ausdruckslosem Gesicht neben ihm.
    Mateo stellte den Mann im Anzug als Roberto Amado vor, Abgesandter aus dem Büro des Bezirksstaatsanwalts. Der Richter in Guatemala City hatte entschieden, dass seine Anwesenheit den Anforderungen des Exhumierungsbefehls genüge. Amado würde die Arbeiten beobachten und alles
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