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Knochen zu Asche

Knochen zu Asche

Titel: Knochen zu Asche
Autoren: Kathy Reichs
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weiterreden.
    »Wie bewahrt man seine Sprache und seine Traditionen, wenn die eigenen Kinder Seinfeld anschauen und die Stones hören? Wenn ihre Cousins in der Stadt kaum noch ein paar Wörter Französisch parler können?«
    Ich betrachtete die Frage als rhetorisch und antwortete deshalb nicht.
    »Wir Akadier haben gelernt, an unserer Identität festzuhalten, egal, was das Leben uns in den Weg wirft. Wie? Zum Teil durch reine Halsstarrigkeit. Zum Teil, indem wir alles überlebensgroß machen. Unsere Musik. Unser Essen. Unsere Feste. Sogar unsere Ängste.«
    »Aber wir leben nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert«, sagte ich. »Und auch nicht mehr in den Neunzehnsechzigern. Wie kann Bastarache Krankenhäusern und Behörden nur derart misstrauen?«

    »Bastarache ist durch und durch Akadier. Außerdem betreibt er Geschäfte, die hart am Rande der Legalität sind. Und dazu hat er noch persönliche Lasten zu tragen. Übler Vater. Perverser Bruder. Die Mutter erschossen. Kein Schulbesuch.« Hippo zuckte die Achseln. »Der Kerl scheint Ihre Freundin wirklich zu lieben. Wollte nicht, dass ihr was zustößt. Tat, was er für das Beste hielt, um sie zu schützen.«
    In einer Hinsicht hatte Malo recht gehabt. Obéline und Bastarache lebten, was ihre Einstellung zu Évangélines Krankheit anging, wirklich noch im Mittelalter. Wie die pflegenden Schwestern vor über hundert Jahren hatte Obéline sich der Lepra geopfert, war eine lieblose Ehe eingegangen, um sich um ihre Schwester kümmern zu können. Bastarache war ihr Komplize geworden, als es darum ging, ihre Schwester vor der Welt zu verstecken.
    »Obéline log, als sie sagte, sie hätte gesehen, wie Évangéline ermordet wurde«, sagte ich. »Um mich in die Irre zu führen. Außerdem ließ sie alle in dem Glauben, Bastarache wäre verantwortlich gewesen für den gebrochenen Arm und das Feuer.«
    »War er das nicht?« Hippo pulte sich etwas aus den Backenzähnen.
    Ich schüttelte den Kopf. »Wegen der Lepra hatte Évangéline nur wenig Gefühl in den Händen und Füßen. Obéline brach sich die Elle, als sie versuchte, Évangéline vor einem Sturz von der Treppe zu bewahren. Und es war auch Évangéline, die unabsichtlich das Haus in Brand steckte.
    Außerdem log sie in Bezug auf den Gedichtband. Obéline hatte ihn als Geburtstagsgeschenk für Évangéline veröffentlichen lassen. Anonym, da ja niemand wissen durfte, dass ihre Schwester noch am Leben war.«
    Nach erfolgreicher Reinigung der Backenzähne bestrich Hippo sich einen zweiten Bagel. Ich redete weiter.
    »Das Tragische ist, dass Évangéline ein relativ normales Leben
hätte führen können. Kombinationstherapien sind inzwischen allgemein verbreitet, und für gewöhnlich zeigen Patienten nach zwei bis drei Monaten deutliche Verbesserungen. Nur bei weniger als zehn Prozent der Behandelten schlägt die Therapie nicht an.«
    »Gibt es immer noch so viele Leprafälle?«
    Ich hatte darüber einige Recherchen angestellt.
    »Die registrierte, globale Verbreitung von Lepra lag Anfang zweitausendsechs bei fast zweihundertzwanzigtausend Fällen. Und das nicht nur in Afrika und Südostasien. Es gibt zweiunddreißigtausend Fälle allein hier auf dem amerikanischen Kontinent. Über sechstausend in den USA. Jedes Jahr werden zwischen zweihundert und zweihundertfünfzig neue Fälle diagnostiziert. «
    »O Mann.«
    »Bastarache und Obéline taten für Évangéline genau das, was für ihre Mutter getan worden war, ohne je zu erkennen, was für einen gigantischen Fehler sie da begingen.«
    Mein Blick wanderte zu der Reihe ordentlich beschrifteter Schachteln. Geneviève Doucet, die der arme, geistesgestörte Théodore in ihrem Bett hatte mumifizieren lassen.Anne Girardin, die von ihrem eigenen Vater getötet worden war.
    Ich dachte an andere. Ryans Vermisste Nummer zwei, Claudine Cloquet, die ihr Vater an Malo verkauft hatte. Évangéline, die ihr Möchtegern-Gatte und ihre Schwester weggesperrt hatten, wenn auch zweifellos mit ihrem Einverständnis.
    »Wissen Sie, Hippo, der Schwarze Mann hängt nicht immer nur auf dem Schulhof oder an der Bushaltestelle rum. Es kann der Kerl sein, der in deinem Wohnzimmer an der Fernbedienung klebt.«
    Hippo starrte mich an, als hätte ich Suaheli gesprochen.
    »Irgendjemand aus der eigenen Familie. Oft lauert genau dort die Gefahr.«
    »Ja«, sagte Hippo leise.

    Mein Blick blieb an dem Namen hängen, der jetzt auf der Schachtel mit den Überresten des Mädchens aus dem Lac des Deux Montagnes
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