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Klippen

Klippen

Titel: Klippen
Autoren: Olivier Adam
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gern eingeredet, dass ich nichts fühlte, dass es mir nichts ausmachte, nach all den Jahren wieder hier zu sein, aber es stimmte nicht, und meine Augen wurden feucht, ich hatte einen Kloß im Hals, Maman ging durch den Garten, barfuß im nassen Gras, und Antoine sah mich an, das Gesicht sonnenüberflutet und das rechte Auge im Gegenlicht geschlossen. Ich sah nur schemenhafte Gestalten, unscharfe Bilder. Claires Stimme drang wie in Watte oder Baumwolle verpackt und fern wie in einem Traum zu mir. Sie unterhielt sich mit der Frau, die jetzt seit zwei Jahren in dem Haus wohnte, sie kenne den früheren Besitzer nicht, wisse nicht einmal seinen Namen, wir sollten die Nachbarn fragen, vielleicht wüssten die mehr, es tue ihr leid, sie könne nichts für uns tun, auf Wiedersehen. Ich folgte Claire wie ein Schlafwandler, sah die Nachbarin aus dem Haus kommen und sich die Hände an der Schürze abwischen, ich erkannte sie wieder, sie hatte uns immer angebrüllt, wenn unser Ball in ihren Blumen gelandet war. Ich hörte sie über meinen Vater, seine Krankheit und den Tag sprechen, an dem der Krankenwagen ihn abgeholt hatte, Dutzende Male habe sie ihn im Krankenhaus besucht, der arme Mann, sie sei sein einziger Besuch gewesen, seine Kinder hätten ihn im Stich gelassen, ob sie nicht schrecklich sei, die Einsamkeit in der heutigen Zeit, und all die Menschen, die einsam beerdigt würden, die stürben, ohne dass ihre Kinder sich darum scherten. Ich weiß noch, wie ich verwirrt dachte, dass Eltern sich um ihre Kinder zu kümmern haben und nicht umgekehrt, ich drückte Chloé an mich und nahm es mir ganz fest vor, ich nahm mir vor, sie ihr Leben lang zu beschützen, nahm mir vor, dafür zu sorgen, dass es ihr nie an etwas fehlte, nicht nur an Nahrung, Geld oder einem Dach über dem Kopf, sondern auch an Küssen, Zuwendung und liebevollen Worten, ich nahm mir vor: »Wenn ich alt bin, werde ich mich ganz klein machen, und auch solange ich lebe, Chloé, werde ich mich für dich ganz klein machen, leicht, aber präsent, ich werde nur da sein, wenn du es willst, wenn du mich brauchst, wenn ich dir nützlich sein kann.« Die Nachbarin sagte: »Jetzt ist es zu spät«, und dabei starrte sie mich an wie eine alte Elster, die alte Schachtel, die die Kinder anbrüllt, wenn sie auf der Straße spielen oder ihr Ball in ihre Blumen fliegt, das sagte sie und auch, dass er tot und begraben sei und sie ihn bis zum Schluss im Krankenhaus besucht habe. Mit einem Seitenblick auf mich fugte sie hinzu, sie frage sich, wie Kinder so beschäftigt sein könnten, dass sie darüber ihren Vater vergaßen, vor allem, wenn er allein lebe, und nicht einmal mitkriegten, dass der Krebs ihn auffraß und schließlich ins Grab brachte. Sie redete weiter über ihn, wie dünn er zum Ende hin geworden sei, wie er die Pfleger und Ärzte mit den Vornamen seiner beiden Kinder, Antoine und Olivier, angesprochen habe, wie er eine gertenschlanke, hellblonde Krankenschwester mein Schatz genannt habe, weil er sie für seine Frau hielt und sie ihr tatsächlich ähnlich sah. Sie erzählte vom Essen, das sie in all der Zeit für ihn gekocht habe, nachdem ihn auch das zweite Kind verlassen hatte – sie tat so, als sei ich nicht da, als sei nicht ich das Kind, um das es ging, sie sprach in der dritten Person über mich, obwohl wir uns gegenüberstanden –, sie habe einmal die Woche bei ihm aufgeräumt und geputzt, der arme Mann sei ja so allein gewesen, und dabei sei er so nett, gesprächig und witzig gewesen, er habe nie die Stimme erhoben, nie ein böses Wort gesagt, sei immer sehr höflich und kein bisschen wehleidig gewesen, selbst als der Krebs ihm so zugesetzt, ihm die Haare und den Verstand geraubt habe. Dann sprach sie über den Friedhof, über die Beerdigung, bei der nur sie und ein Kollege aus seiner Zeit als Taxiunternehmer gewesen seien, abgesehen von zwei oder drei Brüdern und Schwestern, die die ganze Zeit geklagt und leise Andeutungen gemacht hätten, woraus man schließen konnte, dass sie ihn schlicht und einfach nicht gemocht hatten. Wie kam es, dass alle, die meinen Vater auch nur ein kleines bisschen gekannt hatten, ihn hassten, und dass die Einzige, die ihn vielleicht mal geliebt hatte, es vorgezogen hatte, sich von einer Klippe zu stürzen?
    Chloé sabberte auf mein Hemd, ich spürte ihren warmen, feuchten Körper an meiner Brust, und ihr nasser, zahnloser Mund kaute mal an dem Finger, den ich ihr hinhielt, mal an meinem Mantelkragen. Wir gingen durch graue
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