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Klippen

Klippen

Titel: Klippen
Autoren: Olivier Adam
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zerfallen, zu zerbröckeln wie eine fleckige Mauer, ich hatte das starke Gefühl, bedroht zu werden, war überzeugt, dass Claire mich verfolgte und ganz langsam töten, ersticken, auslöschen, vernichten wollte. Danach erinnere ich mich an nichts mehr. Ich erwachte in einem Krankenhaus, und mir war entsetzlich heiß. Claire hielt meine Hand, und mein Gehirn war vollkommen leer, ohne jede Reaktion. Mein Körper war mit Baumwolle gefüllt, mein Schädel mit leichtem Nebel oder sehr feinem Tüll. Im Flugzeug hatte ich geschlafen. Stündlich verabreichte mir Claire Tabletten, die mich ruhigstellten. Ich verbrachte drei Monate in einer Klinik, in der man mich zwang, mit dem Trinken aufzuhören. Die ersten beiden bekam ich nicht bewusst mit. Vom dritten ist mir vor allem das Bild des ruhigen, friedlichen Zimmers, des Parks, in den das Sonnenlicht fiel, von Claire, die meinen Arm hielt, und von ihren Küssen auf meinen Hals, von den kleinen Nachrichten, die sie von draußen mitbrachte, in Erinnerung geblieben. Der Psychiater war ein hoch gewachsener Mann mit grauem Haar, der mich an den Arzt erinnerte, zu dem ich Lorette geschleppt hatte, er sprach in sehr einfachen Worten zu mir, nahm sich Zeit, um mir zuzuhören, und hatte auch im Umgang mit allen anderen Patienten eine sehr sanfte Art. Ich folgte ihm brav, trank keinen Tropfen mehr und ertrug den wochenlangen Schwindel, die Angstzustände und heftigen Kopfschmerzen, die damit einhergingen. Ich wartete einfach geduldig ab, knüpfte zu den anderen Kranken nur oberflächliche Kontakte und gab mich ansonsten wenig mit ihnen ab, ihr Elend machte mir Angst, ich fürchtete, sie könnten mich anstecken. Der Sophrologe bewertete meine Reaktionen positiv. Er behauptete, ich stelle damit meinen Heilungswillen unter Beweis und versuche wie bei einem Aberglauben, den Teufelskreis zu durchbrechen, das Unglück und die Abhängigkeit zu überwinden. Ich weiß nicht. Ich habe keine Ahnung, ob er damit richtig lag. Schließlich hatte ich meine Gedanken kein bisschen im Griff] und er tat nichts weiter, als mein Verhalten zu deuten. Hinzu kam, dass ich in jedem Gesicht jemanden wiederzuerkennen, einen mir nahestehenden Menschen zu sehen glaubte. Die beiden dort drüben am Baum, er im Trainingsanzug und mit den fahrigen Gesten, die er nicht unter Kontrolle hat, sie klapperdürr und im schwarzen Kleid, das sind Nicolas und Lorette. Und diese Frau mit dem leeren Blick da hinten, die nie etwas sagt und manchmal Besuch von einem Mann und zwei Kindern bekommt, die vergeblich versuchen, ihr einen Blick, ein Wort, eine Geste, ein Lächeln zu entlocken, ist das nicht meine Mutter? Wird sie die Klinik nicht eines Tages verlassen, mit ihnen ans Meer fahren und, wenn es Nacht geworden ist, aus dem Zimmer gehen, im Dunkeln zum Himmel und zu den windgepeitschen Feldern hinaufsteigen, sich ins Meer stürzen und sterben, die Lungen voll Algen und Sand?
     
    Ich wurde entlassen, und es war Sommer. Paris war wie ausgestorben. Claire hatte Urlaub genommen, und ich bedeckte ihr hübsches Gesicht mit Küssen, ich wollte ihr sagen, dass sie mich gerettet hatte, dass sie mich jeden Tag rettete, aber ich sagte nichts. Ein paar Tage später leerte ich meine erste Whiskyflasche. Die Medikamente hielten mich über Wasser, meine Nächte waren von Albträumen bevölkert, und um mich herum schien alles mit Traurigkeit gesättigt. Ich brachte obskure Geschichten über trunksüchtige Boxer und unter dem Gewicht der Toten ächzende Leichenträger zu Papier. Ein paar Monate später zogen wir in die Bretagne.
     
     
     
     
     
     
    Nach unserer unerwarteten Begegnung in der Bar des Wettbüros auf den Grands Boulevards lief ich meinem Vater nie wieder über den Weg. Er verschwand aus meinem Leben, und in all den Jahren dachte ich nicht an ein Wiedersehen, war ich nie versucht, mich nach ihm zu erkundigen. Claire überredete mich eines Tages, zum Telefon zu greifen. Neun Jahre waren ohne ein Wort, einen Brief oder auch nur eine simple Postkarte vergangen. Bücher waren erschienen, ein Film war in Vorbereitung, ich war von Zeit zu Zeit im Radio, oder mein Foto wurde in der einen oder anderen Zeitschrift abgedruckt. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass er mich vielleicht hörte, mein Gesicht entdeckte und, warum auch nicht, eine Buchhandlung betrat, um zu fragen, ob sie das jüngste Buch seines Sohnes im Regal hatten. Aber ich stellte mir nicht einen einzigen Augenblick die Frage, ob er überhaupt noch lebte. Ich weiß
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