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Klippen

Klippen

Titel: Klippen
Autoren: Olivier Adam
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Gewerbegebieten und in Reihen angeordneten Einfamilienhäusern vorbei, die genauso aussahen wie das, in dem ich aufgewachsen war und meinen Vater wiedersehen sollte. Bereits zehn Minuten vor dem Bahnhof erkannte man die Hochhäuser der Siedlung, die acht perlgrauen Türme, die unser Haus und unseren Garten zu bestimmten Tageszeiten in Schatten tauchten. Von Lorettes Zimmer aus hatten wir das Kommen und Gehen unseres Alten beobachten und den Moment abpassen können, in dem er das Haus verließ, um selbst einzurücken, in unsere Zimmer zu gehen oder im Wohnzimmer fernzusehen. Chloé wachte auf, als der Zug bremste, und wir mussten auf dem verlassenen Bahnsteig auf einer Bank unter dem pflaumenblauen Dach warten, während es nieselte und meine Tochter an Claires Brust nuckelte. Die beiden versteckten sich hinter der blassblauen Decke, und aus den Lautsprechern quoll ein Lied von Joe Dassin, ich glaube Salut les amoureux.
    Das Mammouth-Schild war durch den roten Namenszug der Marke Auchan ersetzt, der Parkplatz größer geworden, die Hochhäuser waren frisch gestrichen, und zu ihren Füßen hatte man zwischen zwei Reihen mit Tags besprühter Autos ein Gebäude errichtet, in dem ein Nachbarschaftshaus untergebracht war, das an ein eingezäuntes Betonviereck mit Basketballkörben auf beiden Seiten grenzte. Chloé fest an den Bauch gepresst, die Nase in ihrem dünnen Haar, sodass ich ihren Geruch nach Schlaf Seife und ranziger Milch roch, ging ich durch Straßen, durch die ich so viele Jahre nicht mehr gegangen war, sie waren unverändert, wie eingefroren, und nur die Automarken, die Modelle und die Lackfarbe waren mit der Zeit gegangen. Die Gegend machte nichts her, aber eigentlich war das schon immer so gewesen.
    Das schmale Haus stand mitten im neu angelegten Garten. Die Flächen, wo früher hohe Gräser wucherten, hatte man mit Zement ausgegossen, zu Füßen eines jungen Kirschbaums wuchs ein kurz geschorener Rasen, den Weg säumten ordentliche Blumenbeete. Die Wände waren verputzt und von Lorbeer, Bambus oder Efeu verdeckt. Das Eisentor war gestrichen worden und abgeschlossen. Ich klingelte. Eine Frau trat aus dem Haus und kam auf uns zu. Sie musste um die fünfzig oder vielleicht älter sein, ihr Spatzengesicht wurde von gefärbtem, dauergewelltem Haar eingerahmt. Sie wirkte ängstlich wie alle Menschen, wenn sie von einem Fremden angesprochen werden, als wäre die Welt ausschließlich von Halsabschneidern und Kinderschändern bevölkert, als wäre es um sie tatsächlich so erbärmlich bestellt, wie uns die Fernsehnachrichten weismachten. Mit dem Kinn fragte sie uns, was wir von ihr wollten. »Ich suche meinen Vater«, hörte ich mich sagen, während Chloé ihr Gesicht an meiner Haut rieb.
    »Ihren Vater?«
    »Ja, meinen Vater. Er wohnt hier.«
    »Hier? Das würde mich wundern. Es sei denn, mein Mann hat Kinder, von denen er mir nichts erzählt hat.«
    Ich sah Claire an, und wir dachten nicht das Gleiche. Claire sah meinen Vater schon im Altersheim, als Langzeitpatient in irgendeiner Klinik oder tot. Mir dagegen gingen unwillkürlich flüchtige Bilder durch den Kopf, sie handelten von meinem wiederverheirateten Vater, von seinem Schweigen über uns alle, über meine Mutter, Antoine und mich, seiner von der Tafel gelöschten Vergangenheit, unseren mit einem Kreidestrich in aller Stille durchgestrichenen Namen, seinem von uns dreien bereinigten Leben und von seinem bedrückenden früheren Leben entlasteten jungfräulichen Gedächtnis, einem Leben, das er nie geliebt hatte, so wie er Antoine und mich nie geliebt hatte, jedenfalls soviel ich wusste, und natürlich wusste ich eigentlich nichts darüber, denn all diese Dinge lagen im Treibsand eines Gedächtnisses verschüttet, in dem ich umso tiefer versank, je mehr ich darin grub. Chloé fing an zu weinen, es war verrückt, wie sie alles erspürte, alles erahnte, sich in mich einfühlte. Ich blieb stumm, dabei hätte ich mir gern eingeredet, dass mir alles egal war, auch dieses Haus, das mein Vater zusammen mit allem, was darin vorgefallen war, verlassen hatte, und die letzten Erinnerungen an meine Mutter, die noch immer in diesem trostlosen Einfamilienhaus herumspukten, ich hätte mir gern eingeredet, dass ich auf diesen Ort, den nicht mehr wiederzuerkennenden Garten und die Straße pfiff und auch auf alles, was die Gerüche, das Licht, die Beschaffenheit der Luft, der Zement unter meinen Füßen und die Hochhäuser in der Ferne in mir aufsteigen ließen, ich hätte mir
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