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Klippen

Klippen

Titel: Klippen
Autoren: Olivier Adam
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Unsere Leben sind ähnlich und schutzlos. Wir sind im Schatten unserer bedrohlichen, kalten Väter, in der strapazierten Zerbrechlichkeit unserer Mütter aufgewachsen, wir drängen uns im Herzen eisiger Siedlungen, austauschbarer, schrecklich stiller Häuser, von Angst und Langeweile zersetzter Straßen, inmitten toter Erwachsener aneinander. Ja, wir sind unter dem Terror unserer Väter, in der sorgenvollen Schweigsamkeit unserer Mütter, in der Leere abstrakter, nicht existierender Orte ohne Rand noch Mitte aufgewachsen. Wir waren weder reich noch arm, weder arm noch reich, wir glaubten an nichts und niemanden, und nichts und niemand glaubte an uns.
    Unsere Leben sind gleich. Unsere Leben sind ähnlich und hoffnungslos. Unsere Kindheiten schwitzen Langeweile und Angst aus, unsere Jugend zerbricht an unsichtbaren Mauern, unsere Häuser sind sich zum Verwechseln ähnlich und gehen in der riesigen Landschaft unter. Und während die Zeit verstreicht, erleben wir immerfort, wie die Unseren einer nach dem anderen fallen, wir sehen sie versinken und verschwinden. Heute marschieren wir aufs Geratewohl, und unsere Füße bahnen sich einen Weg durch die Asche. Wir kennen die Geschichte nicht. Wir haben keine Ahnung. Wir interessieren uns nicht für unsere Zeit, und die Gesellschaft ist als Fiktion zu gewaltig, als dass man sie sich auch nur vorstellen könnte. Wir kommen und gehen mit den Launen des Zeitenstroms, und alles zerrinnt uns zwischen den Fingern. Wir klammern uns an das, was uns beruhigt, uns Halt gibt und verbindet, und aneinandergedrängt, ohne uns je zu berühren, haben wir weniger Angst und scheint endlich etwas Gestalt anzunehmen. Aber nie wird es je irgendwo greifbar, der Wind bläst, und überall ist Raureif Wir gehen in der Masse unter, werden weitergetrieben, bewegen uns, vor Kälte zitternd, blind wie Kaulquappen vorwärts. Trotzdem machen wir weiter, die meisten von uns jedenfalls. Wir klopfen uns den Staub von den Händen und Knien. Wir trocknen das Blut auf unseren Handflächen, kreuzen die Finger und glauben, das Unheil dadurch abwenden zu können.
     
    Unsere Leben sind gleich. Unsere Leben sind ähnlich und entstellt. Wir beweinen dieselben Toten und leben in der düsteren Gesellschaft von Gespenstern, unsere Körper verschlingen sich ineinander und suchen vergeblich nach unmöglichem Trost. Unsere Leben, die für immer in der Menge untergehen, passen in einen Fingerhut. Und auch wenn wir uns nach der Decke strecken, sind wir stets kleiner als wir selbst.
    Unsere Leben sind gleich. Unsere Leben schlagen um sich, schreien in der Nacht, heulen und zittern vor Angst. Bis in alle Ewigkeit suchen wir einen sicheren Hafen. Einen Ort, an dem der Wind weniger stark bläst. Einen Platz, an den wir gehen können. Und dieser Hafen ist ein Gesicht, und dieses Gesicht genügt uns.
     
    Claire wacht auf und streckt sich, sie küsst mich, und Chloé stürzt sich lachend auf sie. Ich schlafe für ein, zwei Stunden ein. In dieser Zeit werde ich ihre Stimmen, ihr Flüstern, ihr unterdrücktes Lachen, das in die Badewanne einlaufende Wasser, das Rascheln von Stoff hören. Später werden wir an den Strand gehen, Steine ins graublaue Wasser werfen. Dann werden wir auf einem Weg oberhalb des Wassers Spazierengehen, und noch später werden wir nach Hause fahren, zu anderem Sand, anderem Wasser. Es werden viele Vögel da sein, und das Meer wird sich zurückgezogen haben. Schon jetzt weiß ich: Wenn ich aufwache, wenn ich die Augen, die Vorhänge öffne, wird alles ruhig sein und leuchten.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    Ich danke
     
     
     
     
    dem Bezirksrat von Seine-Saint-Denis für seine Hilfe
     
    für »besonderen Beistand«: Julien Bouissoux, Alix Penent, Olivier Chaudenson
     
    den Lesern, die mir über die Schulter geschaut haben: Alain Raoust, Jean-Christoph Planche
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