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Klippen

Klippen

Titel: Klippen
Autoren: Olivier Adam
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dem massigen Körper wegknicken. Er ließ sich in den Sessel fallen, aus dem er nicht mehr aufstand, und murmelte unverständliches Zeug.
    Ich ging zurück ins Badezimmer und zog Léa aus der schmalen Wanne. Ihr Körper war nass und eiskalt, wie ein Fisch. Aber auch in ihrem Zimmer, auf dem Bett, in dem mit winzigen Blumen gemusterten malvenfarbenen Kleid, war und blieb Léa tot. Die Tür ging auf es war ihr Vater. Er kam herein, und die anthrazitgraue Anzughose schlackerte um seine dünnen Beine. Er sah uns nicht an, wir waren unsichtbar oder gar nicht da, dann erblickte er seine Tochter und brach zusammen. Schweigend warteten wir ab, und mir war, als würde die Luft um uns herum gefrieren und unser Blut zu blassblauem Packeis gerinnen lassen. Nach einer Weile richtete er sich auf und befahl uns mit sehr ruhiger Stimme, zu verschwinden. Wir beide sollten unser Zimmer räumen, er wollte uns nie wieder sehen und gab uns zehn Tage, um abzuhauen. Still gingen wir hinaus.
     
     
     
     
     
     
     
    Die Beerdigung fand zwei Tage später statt. Bevor ich ging, räumte ich mein Zimmer nicht aus. Ich packte lediglich eine Tasche. Nahm nur das Allernotwendigste mit. Ein paar Kleidungsstücke, meine Papiere, meine Manuskripte, meine Notizbücher. Den Schlüssel ließ ich in der Tür stecken, einen Zweitschlüssel besaß ich nicht. Ich schloss mich dem Trauerzug in einer Allee des Friedhofs Montmartre an. Die Männer waren alle sehr groß, hatten Glatzen und trugen lange Kaschmirmäntel, die Frauen dunkle Kostüme und schwarze Sonnenbrillen mit Initialen. Die Bäume ragten wie Pfeile in den wolkenlosen blauen Himmel. Ich hielt ein wenig Abstand. Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Es war Claire, und zwischen all den Grüften, in denen durchgefrorene Vögel nisteten, fielen wir uns in die Arme. Ich fragte sie, ob sie nicht nach vorn gehen wolle. Sie antwortete, sie könne nicht, sie ertrage es nicht, das Loch, den Sarg, die Erde darauf zu sehen. Wir gingen einen Kaffee an der Place de Clichy trinken. Es wurde dunkel, und wir waren immer noch dort. Wir waren betrunken und traurig. An diesem Abend sagte ich niemandem Bescheid, ich ging nicht in die Bar, in der ich kellnerte. Tags darauf übrigens auch nicht. Nie wieder. Ich sagte mir, der Wirt würde es schon verstehen. Auch ins Hotel ging ich nicht mehr.
     
    Wir verließen das Café, und die Place de Clichy drehte sich um uns wie ein Karussell, wie eine Märchenwelt aus Neonlichtern und Scheinwerfern. Wir gingen zu ihr nach Hause. Sie wohnte damals schon in dieser dunklen Wohnung mit den schiefen Wänden, den orangeroten Terrakottafliesen, den drei Fenstern gegenüber den hohen, rissigen Mauern, den Zimmern zum Hof. Sie machte kein Licht, und der Boden wankte. Wir zogen uns aus, und nichts konnte unsere eiskalten Knochen, unser gefrorenes Blut wärmen. Wir lagen die ganze Nacht mit offenen Augen reglos Arm in Arm unter einem Haufen Decken. In der Stille des Hauses, die nur dann und wann durch das Geräusch des in den Rohren rauschenden Wassers oder das ferne Klingeln eines Weckers gestört wurde, spürte ich ihre Tränen an meiner Schulter, auf meiner Wange und in meinem Mund. Gegen Mittag wachte ich auf, sie lag zusammengerollt auf dem Sofa und sah im Morgenlicht sehr blass aus, ein Sonnenstrahl ließ ihr Haar leuchten und wärmte ihre gerötete Haut. Ich ließ sie nie mehr aus den Augen.
     
     
     
     
     
     
    All die Jahre, die ich mich in dem Zimmer am Ende des engen Flurs verschanzte, mich darin versteckte, damit weder mein Vater noch sonstwer mich jemals fand, hatten etwas von einem Klinikaufenthalt. Ein langer Aufenthalt ohne Ärzte und mit Alkohol als einzigem Medikament. Es gab mehrere Zimmer, meine Nachbarn waren Patienten, und wir begegneten uns ab und zu. Wir gingen gelegentlich aus, kehrten aber immer zurück. Zwei Jahre später wurde ich im Schnellverfahren von Lissabon nach Frankreich zurücktransportiert. Ich verbrachte ein paar Wochen in einem Komplex aus frei stehenden Gebäuden, die von einem Park mit unbelaubten Bäumen und reifüberzogenen Bänken umgeben waren, und wenn ich daran zurückdenke, war das gar nicht so anders.
    Ich weiß nicht, wie Claire auf Lissabon kam, vielleicht wegen Pessoa. Seit Erscheinen meines zweiten Romans und der Stille, mit der er aufgenommen wurde, lebte ich mit dem Kopf unter Wasser, und ich glaube, in ihren Augen war diese Reise so etwas wie unsere letzte Chance. Der Frühling stand vor der Tür, und wir hatten ein
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