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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Autoren: Oliver Schulz
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Der Große Bogen
    Im Frühjahr 2007 raste ich in einem indischen Geländewagen über die endlosen Landstraßen irgendwo zwischen Kalkutta und den Fußhügeln des südlichen Bhutan. Am Steuer saß ein langhaariger Londoner Immobilienmakler namens Conrad. Er war der Leiter einer Oldtimerrallye quer durch den Himalaya, über die ich eine Reportage schrieb. Wir ließen unser Gefährt auf einem biblischen Kahn über einen Flusslauf schiffen und stromerten nach Einbruch der Dunkelheit über einen nur von Kerzen beleuchteten Bauernmarkt. Conrad kostete bei einem Kioskbesitzer Betelnüsse und fühlte sich danach so benommen, dass wir uns fragten, ob Opium daruntergemischt gewesen war.
    In diesem Zustand kam er ins Plaudern. Er sprach von einer Motorradrallye entlang dem 78. Längengrad. Von der kolonialen Geschichte dieser Route, die mitten durch das Herz des Landes führte. Während wir mit 80 Stundenkilometern durch die Dunkelheit brausten, verlor sich der Londoner Makler in einem begeisterten Monolog über die britischen Wissenschaftler, die vor zweihundert Jahren den gesamten Subkontinent von der Südspitze bis hinauf in den Himalaya durchquert hatten, über die Geodäten William Lambton und George Everest. Auf einer Strecke von 3000 Kilometern hatten sie Indien zentimetergenau vermessen und dabei die Erdkrümmung neu berechnet, eine mit Unsummen geförderte Großexpedition. The Great Arc nannte Conrad ihr Projekt ehrfurchtsvoll, Der
Große Bogen. Es habe für die Wissenschaft jener Zeit dieselbe Bedeutung gehabt wie die Mondlandung für die Moderne.
    In meinem Kopf begannen die Gedanken den 78. Längengrad von Süd nach Nord entlangzukrabbeln. Was wäre, fragte ich mich, als ich abends im Hotelzimmer des feinen Oberoi Grand Kolkata lag, wenn ich diesen Weg zu Fuß nachlaufen würde, von den Tropen bis hinauf in den vereisten Himalaya; eine Monate dauernde Reise durch feuchtheiße Niederungen, trockene Savannen und öde Steppen, durch die Dschungel des zentralen Hochlands und die fruchtbare Ebene des Ganges bis an die Grenze Chinas? Um, anders als die britischen Wissenschaftler, nicht die physische Oberfläche dieses Landes zu vermessen, sondern seinen gesellschaftlichen Zustand. Um seine Dorfgemeinschaften zu erforschen und seine Megastädte, seine jahrhundertealten Tempel und weltberühmten IT-Unternehmen, seine maoistischen Buschkrieger und verwöhnten Oberschichtkinder. Kein Weg dürfte dafür geeigneter sein, als diese Linie, die schnurgerade mitten durch das Land schnitt.
    Und keine Methode dürfte effektiver sein, um sich Indien völlig hinzugeben. Ohne moralischen Schulterschluss mit anderen europäischen Reisenden, ohne Fluchtmöglichkeiten in Luxushotels und klimatisierte Taxis. Ein furchtloser Westler, der schutzlos das Herz jenes Landes durchquert, das sich anschickt, eine Supermacht des neuen Jahrtausends zu werden. Noch in dieser Nacht wurde mir klar, dass der 78. Längengrad mein Schicksal geworden war.
    Zurück in Deutschland, ging alles ganz schnell. Ich fand die Aufzeichnungen der Briten in der Hamburger Staatsbibliothek, vier schwere, grüne Lederbände mit der Aufschrift The Historical Records of the Survey of India , herausgegeben im indischen Dehra Dun 1950 bis 1968. Survey ist die gängige Abkürzung
für Great Trigonometric Survey , das Projekt Großer Bogen. Den halben Sommer hindurch studierte ich ihre Karten, auf denen der gesamte Subkontinent mit einem System kartografischer Dreiecke überzogen war, die schnurgerade den 78. Längengrad verfolgten, sich wie geknickte Strommasten in die nördlichen Landesteile hinein verjüngten und im Himalaya wie Lichtkegel in alle Richtungen zerplatzten. Ich las die von Lebenslust zeugenden Notizen über William Lambton, den ersten Leiter des Unternehmens, der offenbar ausgiebig dem Wein zugesprochen hatte und »ein großer Bewunderer des schönen Geschlechts« gewesen war. Und die mürrischen Aufzeichnungen von George Everest selbst, dem zweiten Leiter der wissenschaftlichen Expedition, über das ungesunde indische Klima und die angebliche Dummerhaftigkeit seiner indischen Mitarbeiter. Dazu noch John Keays Buch Expedition Great Arc. Die abenteuerliche Vermessung des indischen Subkontinents, das die Geschichte der britischen Vermesser erzählt. die Geschichte der britischen Vermesser erzählt.
    In den Wochen danach verglich ich die historischen Karten am heimischen Schreibtisch mit gängigen Straßenkarten und überdimensionalen amerikanischen
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