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Klippen

Klippen

Titel: Klippen
Autoren: Olivier Adam
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Straßen, und Claire drückte mit ihrer behandschuhten Hand fest meine Finger. Immer wieder wandte sie sich mir zu, suchte nach einer Regung auf meinem Gesicht, aber ich war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, unfähig, zu begreifen, dass er tot war, und herauszufinden, ob mir das irgendetwas ausmachte. Ich wusste nicht, ob er etwas von meiner Mutter mitgenommen hatte, und ich glaube, das war das Einzige, was mich interessierte. Was hatte er von ihr, von der man mir so viel gestohlen hatte, mitgenommen? Und was hatte er von mir, von meinen Erinnerungen, vom undurchdringlichen, sandigen Bodensatz meiner Kindheit mitgenommen? Waren all diese Jahre nun tatsächlich verschwunden, sechs Fuß unter der Erde begraben, wo sie im Dunkel des Sargs an ihm hafteten? Wir kehrten der Staatsstraße den Rücken zu, hinter den Häuserzeilen waren in der Ferne die sich über den Fluss beugenden Bäume zu sehen, und in den Schneisen fuhren Schleppkähne vorbei. Die Mauern am verlassenen Sportplatz – Zuschauerränge mit riesigen Graffiti in schmutzigem Rosa und verwaschenem Blau an den Wänden, löchriger Rasen und rostige Torpfosten ohne Netze – hatten Wasserflecken. Der Friedhof war winzig und gegen Blicke abgeschirmt, die tadellos gepflegten Wege waren ordentlich mit weißen oder hellgrauen Kieseln bestreut. Claire stieß das schwere Eisentor auf Chloé hatte Hunger, sie wurde unruhig und weinte in der Stille, die alles einhüllte und den Lärm ringsumher seltsam dämpfte. Das Grab meines Vaters befand sich rechts hinten, eine nüchterne Grabplatte von äußerster Schlichtheit ohne Blumen oder sonstigen Schmuck. Claire setzte sich auf den kalten Stein, Chloé riss ihr Mündchen auf und verschlang ihre Brust. Irgendwie schien mir jetzt alles einen Sinn zu ergeben, ohne dass ich genau hätte sagen können, warum, während ich, eine Hand in der Manteltasche, in der anderen eine Zigarette, unter dem wolkenlosen blauen Himmel der Frau, die ich liebte, am Grab meines Vaters beim Stillen meiner Tochter zusah. Wir nahmen den Abendzug.
    In dieser Nacht schlief ich lange nicht ein, ich stand stundenlang am Fenster und rauchte, später stellte ich mich in den engen Wandschrank und legte inmitten der Kleider die Wange an die Wand, eine seltsame Angewohnheit, als versuchte ich immer noch Léa auf der anderen Seite zu hören. Chloé schlief an ihre Mutter gekuschelt. Im Morgengrauen döste ich endlich mit angezogenen Beinen auf dem Wohnzimmersofa ein. Durch die angelehnte Tür drangen ihre Atemgeräusche zu mir, das der Kleinen fugte sich in das der Großen ein. Ich passte mich ihrem Rhythmus an, und wir drei atmeten im Gleichtakt im kalten Haus, an dem der Wind rüttelte, in dem Blumensträuße vor sich hin trockneten und sich staubbedeckte Bücher, Platten und Zeitschriften stapelten. Ich versank, wie von dunklen, eiskalten Fluten geschluckt, in bleiernem Schlaf in einer tiefschwarzen Nacht.
    Und dann tauchte mein Vater auf, wirklicher als im Leben. Der vergessene Vater aus der Zeit, als ich vier, sechs und später acht Jahre alt war, der Vater, den ich nur von sinnentleerten Fotos kannte, der Mann mit Schnurrbart und leichten gestreiften Baumwollhemden, der lächelnd im Garten werkelt, meiner Mutter den Arm um die Hüften legt oder Antoine in den von Telegrafenleitungen, auf denen kleine schwarze Vögel hocken, zerschnittenen Himmel hebt. Plötzlich sah ich meinen Vater mit diesem Gefühl unbedingter Wahrhaftigkeit, das sich in unseren Träumen manchmal einstellt, ich hörte seine Stimme und spürte seine Hand in meinem Haar, seinen Atem an meiner Stirn, als er mich trug. Eine Szene folgte der anderen, deutlicher als Erinnerungen, auch unbestreitbarer und aufwühlender. Mein Vater vor einem Haus, das ich nicht kenne, und hinter ihm sonnige Felder und in der Ferne die Berge. Die Hände an den Hüften, beobachtet er uns, wir sitzen in einem Baum. Antoine klettert hinunter, dann bin ich dran, mein Vater streckt mir die Arme entgegen, ich lasse mich fallen, und er fangt mich und wirbelt mich im Kreis herum, und der Himmel und sein Gesicht, sie tanzen und verschwimmen, sein Gesicht und sein Lächeln unter dem strahlenden Himmel, und dann seine Stimme in meinem Ohr, seine raue, kratzige Wange, die Muskeln seiner harten Arme. Ich bin sechs, vielleicht auch sieben, und ich höre seine Stimme, höre sie zum ersten Mal, und sie ist ruhig und bedächtig, manchmal heiter, er sagt zu mir mein kleiner Fratz, so nennt er mich, und es ist das erste
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