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Klingsors letzter Sommer

Klingsors letzter Sommer

Titel: Klingsors letzter Sommer
Autoren: Hermann Hesse
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Versuch
    zur Befreiung vom Gegenständlichen: ein
    Antlitz wie eine Landschaft gemalt, Haare
    an Laub und Baumrinde erinnernd, Au-
    genhöhlen wie Felsspalten – sie sagen, dies
    Bild erinnere an die Natur nur so wie man-
    cher Bergrücken an ein Menschengesicht,
    mancher Baumast an Hände und Beine er-
    innert, nur von ferne her, nur gleichnishaft.
    Viele aber sehen im Gegenteil gerade in
    diesem Werk nur den Gegenstand, das Ge-
    sicht Klingsors, von ihm selbst mit uner-
    bittlicher Psychologie zerlegt und gedeu-
    tet, eine riesige Konfession, ein rücksichts-
    loses, schreiendes, rührendes, erschrecken-
    des Bekenntnis. Noch andere, und darun-
    ter einige seiner erbittertsten Gegner, se-
    hen in diesem Bildnis lediglich ein Produkt
    und Zeichen von Klingsors angeblichem
    Wahnsinn. Sie vergleichen den Kopf des
    Bildes mit dem naturalistisch gesehenen
    Original, mit Photographien, und finden in
    den Deformationen und Übertreibungen
    der Formen negerhafte, entartete, atavisti-
    sche, tierische Züge. Manche von diesen
    halten sich auch über das Götzenhafte und
    22
    Phantastische dieses Bildes auf, sehen eine
    Art von monomanischer Selbstanbetung
    darin, eine Blasphemie und Selbstverherr-
    lichung, eine Art von religiösem Größen-
    wahn. Alle diese Arten der Betrachtung
    sind möglich und noch viele andere.
    Während der Tage, die er an diesem Bilde
    malte, ging Klingsor nicht aus, außer des
    Nachts zum Wein, aß nur Brot und Obst,
    das ihm die Hauswirtin brachte, blieb un-
    rasiert und sah mit den unter der verbrann-
    ten Stirn tief eingesunkenen Augen in die-
    ser Verwahrlosung in der Tat erschreckend
    aus. Er malte sitzend und auswendig, nur
    von Zeit zu Zeit, fast nur in den Arbeits-
    pausen, ging er zu dem großen, altmodi-
    schen, mit Rosenranken bemalten Spiegel
    an der Nordwand, streckte den Kopf vor,
    riß die Augen auf, schnitt Gesichter.
    Viele, viele Gesichter sah er hinter dem
    Klingsor-Gesicht im großen Spiegel zwi-
    schen den dummen Rosenranken, viele Ge-
    sichter malte er in sein Bild hinein: Kinder-
    gesichter süß und erstaunt, Jünglingsschlä-
    fen voll Traum und Glut, spöttische Trin-
    keraugen, Lippen eines Dürstenden, eines
    Verfolgten, eines Leidenden, eines Suchen-
    23
    den, eines Wüstlings, eines enfant perdu.
    Den Kopf aber baute er majestätisch und
    brutal, einen Urwaldgötzen, einen in sich
    verliebten, eifersüchtigen Jehova, einen
    Popanz, vor dem man Erstlinge und Jung-
    frauen opfert. Dies waren einige seiner Ge-
    sichter. Ein andres war das des Verfallen-
    den, des Untergehenden, des mit seinem
    Untergang Einverstandenen: Moos wuchs
    auf seinem Schädel, schief standen die alten
    Zähne, Risse durchzogen die welke Haut,
    und in den Rissen stand Schorf und Schim-
    mel. Das ist es, was einige Freunde an dem
    Bild besonders lieben. Sie sagen: es ist der
    Mensch, ecce homo, der müde, gierige,
    wilde, kindliche und raffinierte Mensch
    unsrer späten Zeit, der sterbende, sterben-
    wollende Europamensch: von jeder Sehn-
    sucht verfeinert, von jedem Laster krank,
    vom Wissen um seinen Untergang enthu-
    siastisch beseelt, zu jedem Fortschritt be-
    reit, zu jedem Rückschritt reif, ganz Glut
    und auch ganz Müdigkeit, dem Schicksal
    und dem Schmerz ergeben wie der Morphi-
    nist dem Gift, vereinsamt, ausgehöhlt, ur-
    alt, Faust zugleich und Karamasow, Tier
    und Weiser, ganz entblößt, ganz ohne Ehr-
    24
    geiz, ganz nackt, voll von Kinderangst vor
    dem Tode und voll von müder Bereit-
    schaft, ihn zu sterben.
    Und noch weiter, noch tiefer hinter all die-
    sen Gesichtern schliefen fernere, tiefere,
    ältere Gesichter, vormenschliche, tierische,
    pflanzliche, steinerne, so als erinnere sich
    der letzte Mensch auf Erden im Augen-
    blick vor dem Tode nochmals traum-
    schnell an alle Gestaltungen seiner Vorzeit
    und Weltenjugend.
    In diesen rasend gespannten Tagen lebte
    Klingsor wie ein Ekstatiker. Nachts füllte
    er sich schwer mit Wein und stand dann,
    die Kerze in der Hand, vor dem alten Spie-
    gel, betrachtete das Gesicht im Glas, das
    schwermütig grinsende Gesicht des Säu-
    fers. Den einen Abend hatte er eine Ge-
    liebte bei sich, auf dem Diwan im Studio,
    und während er sie nackt an sich gedrückt
    hielt, starrte er über ihre Schulter weg in
    den Spiegel, sah neben ihrem aufgelösten
    Haar sein verzerrtes Gesicht, voll Wollust
    und voll Ekel vor der Wollust, mit geröte-
    ten Augen. Er hieß sie morgen wiederkom-
    men, aber Grauen hatte sie gefaßt, sie kam
    nicht
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