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Klingsors letzter Sommer

Klingsors letzter Sommer

Titel: Klingsors letzter Sommer
Autoren: Hermann Hesse
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schlafen sollen, unbedingt und
    um jeden Preis. Vielleicht, wenn man eine
    Reihe von Nächten wirklich schlafen
    würde, sechs oder acht Stunden richtig
    schlafen, so würde man sich erholen kön-
    2
    nen, so würden die Augen wieder gehor-
    sam und geduldig sein, und das Herz ruhi-
    ger, und die Schläfen ohne Schmerzen.
    Aber dann war dieser Sommer vorüber,
    dieser tolle flackernde Sommertraum, und
    mit ihm tausend ungetrunkene Becher ver-
    schüttet, tausend ungesehene Liebesblicke
    gebrochen, tausend unwiederbringliche
    Bilder ungesehen erloschen!
    Er legte die Stirn und die schmerzenden
    Augen auf die kühle Eisenbrüstung, das
    erfrischte für einen Augenblick. In einem
    Jahr vielleicht, oder früher, waren diese
    Augen blind, und das Feuer in seinem Her-
    zen gelöscht. Nein, kein Mensch konnte
    dies flammende Leben lang ertragen, auch
    nicht er, auch nicht Klingsor, der zehn
    Leben hatte. Niemand konnte eine lange
    Zeit hindurch Tag und Nacht alle seine
    Lichter, alle seine Vulkane brennen haben,
    niemand konnte mehr als eine kurze Zeit
    lang Tag und Nacht in Flammen stehen,
    jeden Tag viele Stunden glühender Arbeit,
    jede Nacht viele Stunden glühender Ge-
    danken, immerzu genießend, immerzu
    schaffend, immerzu in allen Sinnen und
    Nerven hell und überwach wie ein Schloß,
    3
    hinter dessen sämtlichen Fenstern Tag für
    Tag Musik erschallt, Nacht für Nacht tau-
    send Kerzen funkeln. Es wird zu Ende ge-
    hen, schon ist viel Kraft vertan, viel Augen-
    licht verbrannt, viel Leben hingeblutet.
    Plötzlich lachte er und reckte sich auf. Ihm
    fiel ein: oft schon hatte er so empfunden,
    oft schon so gedacht, so gefürchtet. In allen
    guten, fruchtbaren, glühenden Zeiten sei-
    nes Lebens, auch in der Jugend schon,
    hatte er so gelebt, hatte seine Kerze an
    beiden Enden brennen gehabt, mit einem
    bald jubelnden, bald schluchzenden Gefühl
    von rasender Verschwendung, von Ver-
    brennen, mit einer verzweifelten Gier, den
    Becher ganz zu leeren, und mit einer tiefen,
    verheimlichten Angst vor dem Ende. Oft
    schon hatte er so gelebt, oft schon den
    Becher geleert, oft schon lichterloh ge-
    brannt. Zuweilen war das Ende sanft ge-
    wesen, wie ein tiefer bewußtloser Winter-
    schlaf. Zuweilen auch war es schrecklich
    gewesen, unsinnige Verwüstung, unleidli-
    che Schmerzen, Ärzte, trauriger Verzicht,
    Triumph der Schwäche. Und allerdings
    war von Mal zu Mal das Ende einer Glut-
    zeit schlimmer geworden, trauriger, ver-
    4

    nichtender. Aber immer war auch das über-
    lebt worden, und nach Wochen oder Mo-
    naten, nach Qual oder Betäubung war die
    Auferstehung gekommen, neuer Brand,
    neuer Ausbruch der unterirdischen Feuer,
    neue glühendere Werke, neuer glänzender
    Lebensrausch. So war es gewesen, und die
    Zeiten der Qual und des Versagens, die
    elenden Zwischenzeiten, waren vergessen
    worden und untergesunken. Es war gut so.
    Es würde gehen, wie es oft gegangen war.
    Lächelnd dachte er an Gina, die er heut
    abend gesehen hatte, mit der auf dem gan-
    zen nächtlichen Heimweg seine zärtlichen
    Gedanken gespielt hatten. Wie war dies
    Mädchen schön und warm in seiner noch
    unerfahrenen und ängstlichen Glut! Spie-
    lend und zärtlich sagte er vor sich hin, als
    flüstere er ihr wieder ins Ohr: »Gina! Gina!
    Cara Gina! Carina Gina! Bella Gina!«
    Er trat ins Zimmer zurück und drehte das
    Licht wieder an. Aus einem kleinen wirren
    Bücherhaufen zog er einen roten Band Ge-
    dichte; ein Vers war ihm eingefallen, ein
    Stück eines Verses, der ihm unsäglich
    schön und liebevoll schien. Er suchte
    lange, bis er ihn fand:
    7
    Laß mich nicht so der Nacht, dem
    Schmerze,
    Du Allerliebstes, du mein Mondgesicht!
    Oh, du mein Phosphor, meine Kerze,
    Du meine Sonne, du mein Licht!
    Tief genießend schlürfte er den dunklen
    Wein dieser Worte. Wie schön, wie innig
    und zauberhaft war das: Oh, du mein Phos-
    phor! Und: Du mein Mondgesicht!
    Lächelnd ging er vor den hohen Fenstern
    auf und ab, sprach die Verse, rief sie der
    fernen Gina zu: »Oh, du mein Mondge-
    sicht!« und seine Stimme wurde dunkel vor
    Zärtlichkeit.
    Dann schloß er die Mappe auf, die er nach
    dem langen Arbeitstag noch den ganzen
    Abend mit sich getragen hatte. Er öffnete
    das Skizzenbuch, das kleine, sein liebstes,
    und suchte die letzten Blätter, die von ge-
    stern und heut, auf. Da war der Bergkegel
    mit den tiefen Felsenschatten; er hatte ihn
    ganz nahe an ein Fratzengesicht heran mo-
    delliert, er schien zu schreien, der Berg,
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